damals, ja, damals!

ich stehe ja total auf alte medizinerbücher – und habe auf jedem flohmarkt ein blick darauf. leider fehlt mir oft die gelegenheit dazu. hier ein sehr schönes exemplar:

herr birk illustriert zeitlos schön die pflege von kleinen kindern, er selbst war tübinger kinder-prof von annodunnemals, das buch war als lehrbuch für „pflegerinnen, schwestern und mütter“ gedacht, erstmals aufgelegt 1911, das hier ist die auflage von 1946, „unter zulassung der nachrichtenkontrolle der militärregierung“.

ein paar kostproben:
ammenhaltung: wenn für einen säugling eine amme benötigt wird, soll man sie stets aus einer anstalt (…) beziehen. (…) sind stets genau auf tuberkulose, krätze, läuse u. dgl. zu untersuchen. (…)
wer eine amme in das haus nimmt, daß sie sein kind stille, übernimmt damit die moralische verpflichtung, sich auch um das kinder der amme zu kümmern. es geht nicht an, daß man das eigene kind mit ammenmilch füttert, aber das kind der amme mit kuhmilch ernähren und an einer ernährungsstörung vielleicht zugrunde gehen läßt. (…)
der lohn einer amme soll dem einer hausangestellten gleich sein (…), die kost der amme soll dieselbe sein, vermehrt um einen liter miclh. (…) einen ersatz für ammen bilden die sog. stillfrauen. (…) man findet sie in großstädten vermittels der zeitung oder durch befragen der hebammen.“

„es ist nicht überflüssig, an dieser stelle auch noch einige worte über die abhärtung der kinder zu sagen, da die anschauungen der ärzte und der eltern hier weit auseinander gehen. viele leute beginnen schon im säuglingsalter mit einer geregelten abhärtung ihrer kinder. sie lassen sie alle tage einige zeit nackt liegen und stellen sich vor, daß sie damit die gesundheit ihrer kinder stählen. wenn sie dasselbe mit sich selber machen würden, würden sie bald merken, daß dabei für eine abhärtung nicht viel herauskommt. denn viele antworten auf diese abkühlung immer nur mit einem schnupfen.“

„wie viele säuglingsgymnastinnen haben sich nicht schon um stellen an meiner klinik beworben! alle sandten sie nicht bloß zeugnisse, sondern vor allem lichtbilder mit turnenden säuglingen – zukünftigen akrobaten.“

„wenn den kindern die schule schlecht bekommt, so gehen die eltern in der regel zum arzt, weil sie sich vorstellen, daß dem kind gesundheitlich etwas fehlen müsse. dass das schlechte aussehen, der mangelhafte appetit, die gereizte stimmung usw. durch einen fehler in der erziehung bedingt sein können – darauf kommen die wenigsten. es ist alle jahr dieselbe zeit, in der solche patienten in die ärztliche sprechstunde kommen, nämlich die zeit zwischen weihnachten und ostern, also die zeit, in der die anforderungen der schule an die kinder die größten sind. (…)
es ist die gepflogenheit entstanden, die schule (…) für alle körperlichen und geistigen schädigungen der schulkinder (…) verantwortlich zu machen. nun kann ja gewiß nicht bestritten werden, daß ein körnchen wahrheit hierin enthalten ist, d.h. daß es unter den lehrern, manche gibt, die zu allem andern taugen, nur nicht zum erzieher – gleichwie es viele gibt, die da meinen, daß ihre schüler nur dazu da seien, um mit ihnen ihr mathematisches oder altsprachliches steckenpferd zu tummeln. aber das sind doch die ausnahmen. im allgemeinen darf man festhalten, daß die anforderungen der schule sich in einem vernünftigen verhältnis zu dem, was die schüler leisten können, halten.“

himmel. dann gibts da noch so dinge wie schokoladensuppe und die pflege der lagerstatt und nicht zuletzt allgemeine empfehlungen zur pflege der kinder im krankenhaus. ach, was waren das noch für klar geregelte zeiten.

26 Antworten auf „damals, ja, damals!“

  1. Liest sich wirklich interessant. Manches wirkt auf uns einfach nur surreal.
    Gib doch bitte nochmal so eine Kostprobe. Ich bin da wirklich interessiert…

  2. Erinnert mich an das wunderbare alte Medizinbuch „Neue Wege zur Gesundheit“ aus dem Jahre 1955. Da steht echt faszinierende Sachen drin. Leider befindet es sich noch im Regal meiner Oma, deshalb kann ich hier nicht draus zitieren. Mein Lieblingskapitel ist das zur Selbstbefriedigung. Die galt damals natürlich als schädlich und krankmachend. o_O

  3. „ach, was waren das noch für klar geregelte zeiten.“

    Nee, es waren auch damals gar keine geregelten Zeiten, dass sieht man schon daran, dass der Autor einigen gängigen Erziehungspraktiken (Abhärtung) widerspricht und sich für einen anderen Umgang mit dem Kind einsetzt. Zum Teil wirkt der Text sicherlich auf den heutigen Leser antiquiert und zum anderen Teil ist er doch erstaunlich modern

    Also schon auch witzig wie aktuell manche Themen so bleiben: Eltern schieben gerne jegliche Probleme auf die Schule und geben ihre eigenen Erziehungsfehler ungern zu…

    Ohne den Text genau zu kennen, kann ich das zwar nicht sagen, aber vermutlich so ne seltsame Mischung aus Reformpädagogik und erziehungsideologischen Momenten der Nazizeit (Sicherlich wurden die Auflagen überarbeitet und abgeändert (?)

  4. Ich habe aus einem Verschenk-Regal des Landesarchivs:
    „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, erschienen 1934.

    Allein schon im Vorwort geht es rund:

    „…mit der richtigen Gattenwahl und mit der Verhütung erbkranken Nachwuchses ist aber der Bestand unseres Volkes noch nicht gesichert. Was mit aller Kraft bekämpft werden muß, ist die willkürliche Verhütung erbgesunden Nachwuchses, die in unserem so geburtenarm gewordenen und überalterten Volke ein erschreckendes Ausmaß angenommen hat …. Auf uns Frauen wartet als unaufschiebbar dringlichste die eine uralte und ewig neue Pflicht: Der Familie, dem Volk, der Rasse Kinder zu schenken.“

    Der Rest des Buches ist relativ wissenschaftlich, wirkt auf mich aber wie überarbeitet durch die vielen Bezüge auf die neuen politischen „Regeln“, mehr Kinder, „richtiger“ Gatte etc. Mich beschäftigt, wie eine Frauenärztin so ein Buch schreiben kann, oder ob sie es so musste? Erschreckend.

    1. Nein, die musste das nicht schreiben, die wollte. Das Buch ist nicht überarbeitet, Johanna Haarer war bis zu ihrem Tod eine überzeugte Nationalsozialistin.

      1. Danke Kathrin, ich hatte mich damit nicht weiter beschäftigt, zu starker Tobak. Habe gerade einen Wiki-Eintrag gefunden, werde ich mir morgen mal zu Gemüte führen …

        1. Oh Hilfe….
          …. Der Eintrag über Johanna Haarer bei Wikipedia lesenswert wenn man sich mal gruseln will. Da wundert es einen nicht mehr dass das Kind heute überbehütet sind, wenn der Deutsche damals derart lieblos so groß geworden ist. Besonders gruselig der Part „das Kind“. Lesebefehl!
          Dass es wirklich so gelaufen ist, kam letzte Woche bei Report Mainz und es gab einen Artikel im Spiegel. http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,756370,00.html

  5. Alte Ratgeberbücher bieten ebenfalls Höhepunkte. Zum Beispiel das Werk „Auf dem Wege zur Ehe“:

    „Weil der Schritt in die Ehe so folgenschwer ist, setzt er eine gründliche Prüfung und ernste Überlegung voraus. Es handelt sich nicht nur um das lebenslängliche Glück der beiden Gatten, sondern auch um Wohl und Wehe der Nachkommenschaft, die mit Recht von ihren Eltern als erstes Erbe einen gesunden Leib und eine gesunde Seele verlangt. Darum muß man als erste Vorbedingung von den Eheschließenden verlangen, dass sie körperlich fähig sind, ein gesundes Geschlecht in die Welt zu setzen. […] Zu der Gesundheit, die für den Eintritt in die Ehe erforderlich ist, gehört nun nicht eine robuste körperliche Konstitution, nicht ein Strotzen von Lebensfülle und Kraft, sondern vor allem das Freisein von schweren erblichen Krankheiten und Fehlern. Es gibt vielerlei Dinge, die sich vererben können, wie Farbenblindheit, Kurzsichtigkeit, Flechten, Schuppen, Haarausfall, Fettsucht u.a., aber das, worauf Sie bei der Eingehung der Ehe besonders achten müssen, sind hauptsächlich vier Dinge: Geschlechtskrankheiten, Tuberkulose, Alkoholismus und Nerven- bzw. Geisteskrankheiten.“ (vgl. Rönn, Joseph: Auf dem Wege zur Ehe. Herder. Freiburg im Breisgau 1920, S. 30f.)

    Es geht dann noch weiter mit den seelischen, wirtschaftlichen und religiösen Vorbedingungen, der Gattenwahl und der Bedeutung der Reinheit. Danach folgt der Aufklärungsteil, der unter anderem diese Passage enthält:

    „Das Wesen des Eheabschlusses besteht nun darin, dass die beiden Gatten sich das Recht auf Hingabe gegenseitig übertragen […] Hier muß und wird sich zeigen, ob es wirklich Liebe war, was die beiden zusammenführte. War es Leidenschaft, die nur sich selbst, den eigenen Genuss und die eigene Befriedigung sucht, dann wird diese Leidenschaft ihr sogenanntes Recht mit all der Rücksichtslosigkeit geltend machen, der menschliche Selbstsucht fähig ist. […] Sind die Eheleute dagegen durch wirkliche Liebe, durch wahre Hochachtung und Wertschätzung verbunden, dann werden sie schon von selber Rücksicht nehmen; dann wird der Mann Maß halten und wissen, daß es Zeiten gibt, in denen die Frau der Schonung bedarf, einer Schonung, die unter Umständen Wochen und Monate dauern kann. Umgekehrt wird auch die Frau begreifen, daß sie nie aus bloßer Laune und Unlust oder aus falsch verstandener Frömmigkeit dem Manne unwirsch und abweisend entgegentreten darf. Sie werden sich eben verstehen und respektieren und darum auskommen und glücklich sein.“ (ebd., S. 146)

    Das Buch habe ich Mitte der 1990er in der Stadtbibliothek entdeckt. Die Bibliothek hatte es ausrangiert. Seitdem steht es in meinem Regal neben dem Knigge.

  6. Ich als Transplantierter finde es super interessant sowas zu lesen!! Die entwicklung der Transplantation ist wirklich … naja wie soll ich sagen für mich einfach spannend!!

  7. *lol*

    Ich habe hier noch das Buch „Mutter und Kind“ – ein Bertelsmann-Ratgeber aus den 50ern mit einer farbigen Tafel „Säuglingsstühle“ – und damit ist kein Sitzmöbel gemeint.

    Aber mit Abstand am besten gefällt mir noch ein Kräuter-Heilkunde-Buch von 1898, das ich einst meiner PTA-Freundin zur bestandenen Prüfung schenkte. Da steht drin, dass „Hysterie und andere Unterleibsbeschwerden“ auf „unmäßige Lektüre und Müßiggang“ zurückzuführen seien.

    Claudia

  8. grossartig!!
    ich liebe solche bücher. meine mama schenkte mir zu meiner schwangerschaft das stillbuch von 1975… nicht wirklich zu gebrauchen, aber lustig zu lesen war’s allemal!

  9. Echt interessant! Erinnert mich ein wenig an die Aussage meiner inzwischen 95jährigen Oma „Oh habt ihr Mütter es heutzutage leicht“ als ich meinem Sohn eine Flasche mit Babynahrung zusammenmischte. Sie konnte nicht glauben, dass ich nur Pulver und Wasser mischen musste. Ebenso ist sie immer noch fasziniert wenn ich ihren Urenkel wickel – und ganz einfach links und rechts nen Klettverschluss zumache 🙂

  10. Als ich schwanger war, zeigte mir meine Mutter einen „Schwangerschaftskalender“, den sie 1975 ausgehändigt bekam und der Monat für Monat der werdenden Mutter Ratschläge gab. Am schönsten fand ich in Monat 9: „Wenn Sie merken, dass bei Ihnen die Wehen einsetzen, so beruhigen Sie zuerst Ihren lieben Mann.“ Und das ist ja mal gar nicht sooo falsch…

    1. da hat jemand wirklich Gefühl gezeigt, denn „wir Männer“ sind doch für den Schutz der Familie zuständig
      .. und so eine sich anbahnende Geburt ist doch so etwas Ähnliches wie das Auftauchen eines UFOs – nur noch direkter -)

  11. Ich liebe alte Medizinbücher. Mein Schatz:
    Handatlas der Anatomie des Menschen, die zweite Auflage (4.-6. Tausend) von 1899.

    Dann noch mehrere ältere Bücher über Pädiatrie und Psychiatrie. (Allerdings nicht sooo alt wie das Buch oben.)

  12. Also ich hab nen CHirurgielehrbuch für Pflegeberufe von 1910 und da weht in vielen Absätzen noch der Geist der Zeit hindurch. Sehr spassig zu lesen 🙂

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