vorkältewintergedanken

wenn der tag schon etwas länger geht, die kinder und eltern nur noch sanft an meinem stethoskop vorbeirauschen, muß ich mich hin und wieder zwingen, genauer hinzuhören. die gefahr, dass man das entscheidend kranke kind verpasst, dass in dieser einen nacht, die ich in zukunft nicht mehr vergessen werde, verstirbt, raubt mir den schlaf. wenn die tage im frühjahr durch die praxis durchschweben, wenn das weiße rauschen der wiederholt gleichen beschwerden husten-schnupfen-heiserkeit-durchfall-und-spucken alle aufmerksamkeit nivelliert, hoffe ich auf meinen ärztlichen instinkt, der mich im richtigen moment an die oberfläche zieht, damit ich sehe. aber ist es dann das blasse dreijährige mädchen um die vormittagszeit oder der schwarzhaarige vierzehnjährige, der mit kopfweh nach dem mittag auf meiner untersuchungsliege war? ist es eine übersehene leukämie oder eine meningitis, die heute nacht auf anderen wegen als durch meine praxis vielleicht unter glücklichen umständen in die naheliegende klinik kommt, weil die eltern nicht auf die beschwichtigenden worte des kinderarztes gehört haben? gibt es soviel glück oder richtet das jemand anderes aus, dass doch meist alles gut gelingt? jeder arzt hatte schon einmal den einen patient, den er just noch gesehen hat und der gefühlt in nächster minute bereits viel schwerer erkrankt, als vorher noch prophezeit. vorkältewintergedanken. jeden tag, jede stunde, jeden patienten muß man sich vergegenwärtigen, dass alles passieren kann. dass alles sich zum guten wenden kann und alles zum schlechten. nur dieses wissen macht dich demütig vor den erkrankungen, vor den unwegsamkeiten von viren und bakterien, vor den wirrungen des immunsystems und der karzinogene. sei auf der hut und lass dich nicht einlullen von den vielen gleichen beschwerden, die allen zustehen, aber die nur bei wenigen wirklich gefährlich relevant sein können. hör auf deinen bauch und deine erfahrung, glaube deinen fingern und deinem gehör. werde auch nach jahren wieder schlau, wieder sicher, wieder aufmerksam. nur dann kannst du als arzt bestehen.

40 Antworten auf „vorkältewintergedanken“

  1. lieber Kinderdoc,

    in diesem Moment kommt alles wieder hoch – auch in meiner Familie gibt es einen tragischen Fall.

    Wir (meine Eltern, mein Bruder und ich) gingen alle zu dem gleichen Hausarzt, einem sehr erfahrenen und sehr pingeligen Mann. Manchmal verdrehte ich entnervt die Augen, wenn er mir erklärte, weshalt irgendein Blutwert um fünf Prozent vom Durchschnitt abwich. Oder wenn er mich für irgeneinen Bagatelle zu einem Facharzt überwies und ich die Überweisung mit den Worten „ja, da möchte er wohl seinem Kollegen auch mal eine Privatpatientin schicken“ ins Altpapier knüddelte.

    Doch dann kam der Tag, an dem mein Vater mit akuten Beschwerden zu ihm ging. Ausgerechnet mein Vater, der stets nach dem Motto „was von alleine kommt, geht auch von alleine wieder“ lebte und seine Arztkontakte auf durchschnittlich 0,3 pro Jahr beschränkte.

    An diesem Tag war der Arzt wohl unaufmerksam – abgelenkt oder sonst irgendetwas. Jedenfalls übersah er einen akuten Herzinfarkt und schickte meinen Vater nach einer ziemlich flüchtigen Untersuchung zur Arbeit, wo er zusammenbrach und mit Blaulicht ins nächste Krankenhaus kam.

    Mit viel Glück hat mein Vater überlebt. Und inzwischen hat er sogar die Statistik überlebt, die ihm nach der OP noch maximal zehn Jahre prophezeite.

    Das Ganze ist 21 Jahre her. Hin und wieder sehe ich noch meinen damaligen Hausarzt. Er ist inzwischen selber in Rente. Neulich habe ich ihn bei der Sparkasse getroffen. Er hatte zwei Enkel bei sich. Einer der Jungen ist geistig behindert. Sauerstoffmangel während der Geburt, so erzählt man sich.

    Ich bin nachdenklich geworden. Auch ich übe einen Beruf mit großer Verantwortung aus – und ich überlege an jedem Tag, ob ich ihr tatsächlich gerecht werde.

    Die Medizin hat uns Möglichkeiten eröffnet, die man vor 50 Jahren noch nicht einmal zu träumen wagte. Ich bin froh und wirklich dankbar, in unserer Zeit, in einem Land mit einem gut entwickelten Gesundheitswesen zu leben. Und doch ist die Medizin nach wie vor in vielen Fällen unzulänglich – mal aus wissenscharftlichen, mal aus finanzieleln, mal tragischerweise auch aus menschlichen Gründen.

  2. Respekt für die Offenheit *thumb up*. Bin selbst Apothekerin und auch da sollte man wach bleiben (natürlich) und bei gewissen Symptomen, Nebenwirkungen etc. an den Kollegen Arzt verweisen. Ob die betreffende Person dann hingeht, steht wieder auf einem anderen Blatt…

  3. Da sitzt ein guter Kopf auf Ihren Schultern.

    Ich musste spontan an den Fehler einer Kollegin (Kinderkrankenschwester) denken, die ein Medikament falsch ausrechnete und damit überdosierte. Das Kind war den ganzen Vormittag schwer erweckbar, dummerweise war das genau ein Symptom der Krankheit weswegen es stationär lag, so dass der Fehler erst am frühen Nachmittag aufflog. Das Ganze ging gut aus, aber es war sehr schrecklich für die Kollegin, selbst Mutter von 2 Kindern. Für uns alle war es schlimm, denn wir alle hätten diesen Fehler machen können.
    Und ja, der Alltag fordert einen heraus, aufmerksam und unbequem zu bleiben.

    @Frau Neunmalklug: Puh. Sie haben Größe!

  4. …und nachdem ich wegen Frau Neunmalkluges Postings zuerst an meinen Vater (s.o.) denken mußte, so kommt mir bei zweiten Lesen natürlich auch mein Mann in den Sinn.
    Wenn ich ihn in der Praxis beobachte, so sehe ich genau das, was Kinderdoc treffend beschreibt. Und trotzdem – oder deshalb? – liebt er seinen Beruf sichtlich.

    Mir als „Arztfrau“ bleibt der leise Einwurf, dass das erwirtschaftet Geld in keinem Verhältnis zu investierter Kraft, Zeit und Verantwortung steht. Ohne einen Partner, der diesen Mißstand erträgt, ist dieser wunderschöne Beruf aber nur schwer mit Leben zu füllen.
    Daher an dieser Stelle liebe Grüße an Frau Kinderdoc!

  5. Als bei meinem Mann nach doch längerer Leidensgeschichte endlich das grundlegende Problem an der Schilddrüse erkannt wurde, hat der Arzt alte Blutwerte angefordert, sowohl vom früheren Hausarzt als auch von einem Krankenhausaufenthalt. Überall hätte man es jahrelang sehen können, die TSH- Werte waren in jeder Untersuchung auffällig, aber er mußte erst über Monate völlig zusammenklappen und den Arzt wechseln bis es endlich auffiel. Es geht ihm jetzt zwar wieder gut und er hat längst nicht so schreckliche Konsequenzen erleben müssen wie andere hier, aber trotzdem wäre einiges vermeidbar gewesen.
    Danke für diesen Post – Sie haben meinen Respekt und Vertrauen.

  6. Hui, der Artikel klingt sehr melancholisch, ich hoffe, keinem im größeren Bekanntenkreis ist ‚was‘ passiert. Aber wie wäre es zB mit etwas Aufklärung an die Eltern, so ab und zu als Beitrag vielleicht nützlich, um die Eltern zu stärken. Bis letztes Jahr (*schäm*) hab ich (Medizinstudentin 3. Jahr, Mutter von 2 kleinen Kindern) zB auch noch nicht gewusst, dass:

    MENINGITIS/ Hirnhautentzündung
    als häufiges (aber nicht immer auftretendes) Symptom Nackensteifigkeit hat, sprich das Vorneigen des Kopfes ist nicht möglich oder sehr schmerzhaft. Zudem natürlich Kopfschmerzen und sehr plötzlich einsetzendes, sehr hohes Fieber.

    Ok, zugegebenermaßen kann dasselbe Kind mittags natürlich mittags noch „normal krank/ Standardinfekt“ gewirkt haben. Da braucht man sicher die Antenne/ das Bauchgefühl, um das zu erkennen. Hoffentlich.
    Aber für die Eltern abends zu Hause: Wie sind denn die Symptome für die relevanten, weil schnell tödlichen Krankheiten? Was sollte einen aufmerken lassen und doch lieber nochmal zB ins Krankenhaus fahren lassen, selbst wenn Kind mittags noch unspezifisch war?

    Übrigens, bzgl. Herzinfarkt: Heutzutage wird das Thema im Studium derart stark immer und immer wieder bearbeitet, dass ich mich über die öfters zu hörenden Fälle wie zB oben erzählt immer wieder wundere. Bereits im 2. Semester in Anatomie lernt man, dass sogar Schmerz im kleinen linken Finger auf einen akuten Myocardinfarkt deuten kann. Sogar plötzliche Zahnschmerzen linksseits können Infarktzeichen sein. Absolut typisch aber sind Schulter und Magen (speziell bei Frauen oft eher letzteres). Die Schmerzen sind übrigens immer atem- und bewegungsUNabhängig, also egal wie man sich wendet, es tut weiterhin weh. Irgendwie habe ich den Eindruck, später als praktizierender Arzt legt man erstmal jeden für ein Kontroll-EKG auf die Pritsche, der wegen linksseitigen Schmerzen alles oberhalb desBauchnabels klagt. Geht ja schnell. Oder verliert man das dann im grauen Alltag? Wahrscheinlich geht es bei den ständigen Wiederholungen genau darum: Die künftigen Ärzte so sehr zu sensibilisieren, dass so eindeutige Symptomverkennungen wie zB oben geschildert har nicht mehr auftreten.

    1. Ich glaube genau das ist das Problem. Willst du jeden Patienten der mit linksseitigen Zahnschmerzen kommt erstmal ans EKG hängen? Zumal die wohl eher beim Zahnarzt aufschlagen werden, der sowas gar nicht hat, und gewiss nicht als erstes auf die Idee kommt zum Hausarzt oder in die Klinik zu überweisen. Je zahlreicher die möglichen Anzeichen für einen Herzinfarkt sind, desto zahlreicher sind die „ist aber in den allermeisten Fällen X“- Alternativen. Und dann gibts halt Voltaren auf den schmerzenden Finger. Oder würdest du deswegen selber den Notarzt rufen? Oder wegen Bauchschmerzen? Natürlich, man müsste bei jedem Patienten jede noch so geringe Möglichkeit abklopfen, aber wenn unser Gesundheitssystem nicht finanziell völlig zusammenbrechen soll, dann muss man sich darauf verlassen, dass der Arzt via Bauchgefühl die richtigen Kandidaten für den Rundumcheck rausgreift und den Rest mit ner Schmerztablette heimschickt.

  7. Daran denke ich immer wenn wir schon wieder mal in der Praxis sitzen nur weil der Arzt schnell mal in die Ohren kucken will…..

    Danke dass Du uns wieder daran erinnerst!

  8. Danke.

    Für die Selbstzweifel, für das sich selber und sein eigenes Tun hinterfragen und nicht zuletzt für eine Arbeit, die jeden Tag fordert und eigentlich nie erledigt ist.

    Nein, mir ist natürlich noch kein Kind gestorben – und ich hoffe, dass ich das auch nie erleben werde – aber das Verantwortungsgefühl für das einzelne Kind nicht zu verlieren ist nicht immer leicht. Auch nicht im Bildungssektor.

  9. Hätten die drei Kinderärzte [1x ambulant u. 2x stationär] mit denen wir es damals zu tun hatten, doch auch diese Vorkältewintergedanken gehabt. 😉 Dann hätten sie vielleicht nicht alle den damals grassierenden Magen-Darm-Infekt diagnostiziert. Der war es nicht.

    Es war die Pleurapneumonie. Das volle Programm mit Intensivstation und Thoraxdrainage.
    Ironischerweise war mein ehemaliger Chef der erste, der die falsche Diagnose gestellt hat. Ich hab’s ihm nie gesagt…

    Vielleicht, weil’s ohnehin nichts mehr geändert hätte. Vielleicht, weil ich ihn und die Ausbildungszeit einfach in guter Erinnerung behalten wollte. Ich weiß es nicht…

    1. Vielleicht hätte es für nachfolgende Patienten was geändert. Weil er ab da sicher genauer hingeschaut hätte.
      Ich kann mich noch erinnern, wie unsere Kinderärztin bei der ersten Untersuchung des Murkels (U3 oder so) ne ganze Weile auf seinem Bauch rumtastete. Ich hab wohl schon etwas besorgt geschaut, da erzählte sie mir, dass sie kürzlich ein Kind hatte, überwiesen von einem Kollegen, er hätte einen Knoten getastet. Sie habe ne Weile gebraucht, um ihn zu finden, und seitdem gehörigen Respekt, dass der Kollege den beim „mal drübergucken“ gefunden hatte. Wenn die zusätzliche Minute, die sie jetzt bei jedem Kind dazu aufwendet auch nur einem hilft, war die Lektion doch wertvoll.

  10. Ich bin sehr froh, dass es Ärzt und speziell auch Kinderärzt gibt, die sich dessen bewusst sind, dass irgendwann alles an ihnen vorbeirauscht und dass sie versuchen müssen, so anstrengend es auch sein mag, wieder an die Oberfläche zu kommen.
    Danke, dass Sie sich dessen bewusst sind, so ist die Gefahr für die kleinen Patienten zum Glück verschwindend gering.
    Ein befreundeter Kinderarzt behandelt seine kleinen Patienten immer in Anwesenheit einer Arzthelferin, so bleibt ihm die freie Sicht auf das Wesentliche – das Kind.
    Der Kinderarzt meiner Söhne verwendet leider einen Großteil seiner Aufmerksamkeit auf die Krankenakte und seine Notizen. Wenn man da als Elternteil nicht auf dem Zettel hat, geht das Kind unter und dann hat man, finde ich, auch nicht das Recht, jemandem Vorwürfe zu machen. Denn nur weil der Arzt Arzt ist, ist man als Eltern immer noch in der Verantwortung.

  11. Das, was du schreibst, ist sehr wahr. Und einer der Hauptgründe, warum ich nicht Medizin studiert habe. Ich möchte diese Verantwortung nicht haben, auch wenn ich weiß, dass ein guter Arzt die wenigen Fehler, die er macht, durch die Rettung tausender Menschen aufwiegt. Wo wären wir ohne die moderne Medizin?

    Jedenfalls wüsste ich gern, dass unser Kinderarzt diese Sensibilität und diese Gedanken, an denen du uns teilhaben lässt, auch hat. Meistens glaube ich es, manchmal aber rauscht mein Kind so an ihm vorbei – um deine Worte aufzugreifen -, dass ich nicht sicher bin…
    Meine Frauenärztin hat es dagegen mal ausgesprochen. „Wissen Sie, wie viele schlaflose Nächte ich hätte, wenn durch meine Fehleinschätzung Ihr ungeborenes Kind zu Schaden käme?“ Von dem Moment an habe ich ihr erst wirklich vertraut.

  12. Wunderbar. Der Artikel könnte von meinem Ex-Chef stammen. Und gerade weil ihr euch immer wieder aufrafft, jedem Kind/jeder Familie eure Aufmerksamkeit zuwendet, auf euer Bauchgefühl hört, das irgendwie anklopft, abwägt, die Fakten vergleicht und dann entscheidet, seid ihr in meinen Augen Engel.

  13. und um es noch zu ergänzen:

    Man kann auch nicht jede alles erdenkliche (Häufiges ist häufig und seltenes ist selten) immer und überall sofort durch aufwendige diagnostische Verfahren zeitnah ausschließen sonst müsste man jedes Kind, dass auf den Kopf gefallen ist gleich durchs CT fahren, jedem Kind das Kopfschmerzen hat mit einer Nadel ins Rückenmark stechen und absolut bei jedem Patientin ein Labor machen.

    1. Ja, daher muss man auf dieses Bauchgefühl hoffen, das einem sagt, dass man an dieser Stelle genauer hingucken muss. Wohl dem, der es hat wenn er es braucht.

  14. Ich war letztes Jahr nachts in einem Notarzteinsatz, bei einem 8 jährigen, der hochfiebrig und somnolent war und auch erst mittags beim Kinderarzt gewesen ist.
    Klinische Diagnose war dann eine bakterielle Mengingitis.

    Ich habe am nächsten Morgen selbst mit dem Kinderarzt telefoniert um ihn auf die Notwenigkeit einer eigenen Antibiotikaprohylaxe hinzuweisen und er war doch arg bestürzt. Aber so ist es einfach… manchmal erwischt einen einfach die Statistik.

    Dann kommt noch dazu, dass es im Nachhinein immer leicht ist die „Fehler“ (wenn man sie denn überhaupt so nennen kann) zu erkennen und sie (juristisch) anzuprangern(was für nichtärztliches Personal natürlich noch viel „gefährlicher“ ist als für einen Arzt)

    Ansonsten toller Beitrag!

  15. Ist nicht bei meinen Kindern passiert, aber bei meinem Mann.
    Der Hausarzt hat einen Herzinfarkt übersehen und ihn mit Novalgin und der Diagnose – eingeklemmter Nerv in der Schulter – Heim geschickt… wo er mir dann vor die Füße fiel.
    Mit dem Ergebnis: Hypoxischer Hirnschaden, Koma, Wachkoma, irgendwann wieder da aber kognitiv nur noch ein Vorschulkind. Also – Fünf Jahre Pflegestufe III plus Härtefallregelung.
    Letzten Sommer ging er…
    Nobody is perfect. Auch ich nicht und wohl dem, der im rechten Moment an die Oberfläche gezogen wird. Das Glück hatte der HA meines Mannes nicht. Er nicht und somit mein Mann auch nicht.
    Der Arzt hat sich bei mir entschuldigt. Er weinte dabei und es schienen mir echte Tränen zu sein. Das war okay und er tut mir schon Leid, nun damit leben zu müssen, das Leben eines Menschen durch „vorbeirauschen“ so ungünstig gelenkt zu haben.

      1. Nein, habe ich nicht.
        Es hätte nichts geändert.
        Das zum einen. Zum anderen denke ich, dass er danach seine Antennen immer auf hab Acht gehabt haben wird. Das muss ein übles Gefühl sein und ich glaube, so was will kein Mensch zweimal erleben.
        Er muss damit leben und ich denke, dass ist Strafe genug.
        Dazu war seine Erschütterung echt. Ebenso, wie seine Entschuldigung.
        Auch Ärzte sind keine Übermenschen. Ist ein blöder Fehler gewesen aber ich hatte damals auch andere Sorgen, als dass mir daran gelegen gewesen wäre, einen Nebenkriegsschauplatz zu eröffnen.

        1. So etwas ähnliches hatten wir auch erlebt…
          Mein Vater (damals 61, stark untergewichtig) bekam bei in den Arm ausstrahlenden Schmerzen im Brustkorb die Schnell-Diagnose „gezerrter Muskel“ und wurde mit etwas zum Einreiben heim geschickt.
          Wenige Tage später hatte er einen massiven Herzinfarkt, den er nur aufgrund vieler glücklicher Zufälle überlebte. Die Pumpfunktion des Herzens war danach dauerhaft stark eingeschrämkt, so dass er den Rest seines Lebens kaum körperliche Anstrengungen (z.B. Treppe steigen) leisten konnte. Immerhin war sein brillianter Geist intakt geblieben und nach langer, langer Zeit des Selbstmitleides und schwerer Depressionen war er bis zu seinem Tode mit knapp 83 Jahren weiterhin ein wertvoller Berater in allen Angelegenheiten.
          Dem Hausarzt habe ich damals in jugendlicher Hitze (21) die Praxis gestürmt und mit den Folgen seiner Fehldiagnose konfrontiert. Er war sehr emotionslos – aber was soll man einem wütenden Mädel, das vor Sorge um den Vater halb wahnsinnig ist, auch sagen?
          Rechtliche Schritte? Kam uns nie in den Sinn und würde ich in so einer Situation auch heute nicht tun (außer bei grober Fahrlässigkeit).
          Mein Verhalten damals war grundverkehrt; ich hätte ein viel weniger emotionsgeladenen Gespräch suchen müssen, um ihm eine Chance zur Rechtfertigung zu geben. Aber dem Arzt bin ich noch heute gram. Wir wurden über Jahre dort betreut, meine Mutter hatte als Gemeindeschwester beruflich viel mit ihm zu tun und mein Bruder ist ein Kollege. Das sind doch mehr als genug Möglichkeiten, um ein Gespräch zu führen.
          Und hätte er es beizeiten getan, wäre ich sicher auch nicht wie eine Furie über ihn hereingebrochen…

      2. na toll. spitzenreflex.
        ich denke, frau neunmalklug hat sehr anschaulich geschildert, wie sehr dem kollegen seine fehldiagnose zu herzen geht.
        aber klar: immer erst mal klagen! immer feste druff

        1. Ja, es ging ihm sehr zu Herzen und der Tag, an dem ich die eigene Empathie verliere und die Fehler anderer höher werte, als meine eigenen… ab dem Tag möchte ich nicht mehr Frau Neunmalklug heißen…

        2. Lieber kinderdok,
          ich habe meine Frage extra neutral gestellt, weil mich das Verhalten von Frau Neunmalklug interessiert hat. Auch ich kann nachvollziehen, warum Sie so gehandelt hat. Ich hätte es aber auch verstanden, wenn Sie sich genau gegenteilig verhalten hätte angesichts dieser massiven Folgen für Ihren Mann, sich und die Familie.

    1. das klingt jetzt bloed und ich hoffe, es ist nicht zu unpassend,

      aber ich finds grad richtig krass, wie das verdeutlicht, dass selbst schon der stoff, den man in den ersten monaten humanmedizinstudium lernt so wichtig sein kann. also mein laienhafter erster gedanke war gleich mal, dass das doch die head-zone ist, also dass der schmerz vom herzen richtung schulter „uebertragen“ wird.. und das zeigt ja dann auch, wie wichtig es ist, sowas auch immer im hinterkopf zu behalten.

      1. Mich hat der Bericht auch erschrocken. Seit dem Führerscheinkurs oder den 1. Hilfekursen für Beruf und Hobby sollte doch eigentlich jeder wissen, dass bei Schmerzen in Brust (eventuell mit Schulter u. Arm) und halb seitigen Ausfallerscheinungen keine Zeit verloren werden darf.
        Dass ein Arzt so was übersieht schockiert schon. Wir wissen aber auch nicht, ob er ein EKG gemacht hat, was trotzdem unauffällig war oder ähnliches.
        Oder dass es ihm einfach so durchrutscht, menschliches Versagen.

        Die Frage ist, wie man sich davor besser schützen kann.

    2. Liebe Frau Neunmalklug,

      bei deinen Worten musste ich sehr schlucken. Mein Vater wurde vor vielen Jahren wegen Magenbeschwerden behandelt. EInweisung nach ein paar Tagen wegen Verdachts auf Magendurchbruch. Im Krankenhaus wurde der ein paar Tage alte Herzinfarkt entdeckt, vier Tage später starb er.
      Er hatte der Ärztin immer gesagt, dass ihm auch der linke Arm weh tue, aber da ihm hauptsächlich übel war und er sich viel übergeben musste schob sie alles auf den Magen.
      Ich bin nie wieder zu ihr gegangen, habe nie ein Wort der Entschuldigung gehört.

      1. Liebe/r Anonymus,
        das tut mir Leid.
        Aber vielleicht ist es ein Fehler gewesen, nicht hinzugehen und das Gespräch zu suchen?
        Selbst, wenn man auf einen dieser selbsternannten Götter in weiß getroffen wärst… für den eigenen Seelenfrieden war es MIR wichtig, mit dem Arzt zu reden und zwar so neutral wie irgend möglich.
        Mir hat es geholfen und zwar in der Art, dass ich ihm nicht einen Tag wirklich böse war. Für mich und meinen Frieden mit mir wichtig und vielleicht fehlt dir genau das? Vielleicht hätte sich die Ärztin entschuldigt – wenn man sie nicht gleich mit dem Rücken an die Wand drückt und zu Wort kommen lässt… was gerade in solchen Situationen nicht leicht ist. Sicher. Aber machbar.
        Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ärzte mutwillig leichtfertig handeln und ich KANN und WILL mir auch nicht vorstellen, dass ihnen eigene Fehler egal sind. Da möchte ich einfach an das Gute im Menschen glauben können…
        Naiv? Möglich. Aber mein Weg…

  16. Ein guter Bericht! Ich bewundere alle, die Jobs mit solchen Verantwortungen machen. Als Eltern vertraut man dem Arzt, aber vergisst auch gerne, dass das auch nur Menschen sind, die sich irren können, die zu viel Stress haben… gerade jetzt. Eltern sind auch gefragt, die Kinder zu beobachten und sich vor allem an die Ratschläge der Ärzte zu halten….

  17. May the force be with you!
    Radar eingeschaltet lassen (wir Mädchen nennen es Bauchgefühl 😉 ….)
    Gut zu wissen, dass jemand sich Gedanken macht.

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