mariele

wenn die eltern von mariele durch die tür kommen, denke ich immer nur an tapferkeit. sie haben die ersten drei monate ihres familienlebens im krankenhaus verbracht, beinahe hundert tage gependelt zwischen einem noch leeren kinderzimmer, das auf seine besitzerin wartet, und der verkabelten welt der intensivstation, einer besonderen intensiven, nämlich der kardiologischen, in der sie kinder retten, deren lebensorgan schlechthin nicht funktioniert, wie die natur das ursprünglich vorsah.

mariele hat ein hypoplastisches linksherz, das bedeutet, ihr herz bestand nur aus einer kammer statt gedachten zwei. dabei fehlt vor allem die entscheidende kammer, die das sauerstoffreiche blut in den körper lenkt. seit ihrer geburt hat sie drei operationen hinter sich, diverse herzkatheteruntersuchungen, die eltern durchleben stets die angst der ersten tage von neuem. die versicherung der kinderkardiologen, dass sich mariele entwickelt, wie kein anderes kind mit hypoplastischem linksherz, ist für sie eine beruhigung, aber keine gewissheit  für die zukunft.

tapferkeit ist das falsche wort. die eltern begegnen mir immer mit unverständnis für den verlauf ihres lebens der letzten anderthalb jahre. vater übernimmt die administrativen dinge wie rezepte, arztbesuche und terminvereinbarungen, die mutter trägt die verantwortung, den mut, die zuversicht, auch wenn ihre augen immer ein wenig traurig schauen, wenn wir die nächste – bei mariele besonders wichtige – impfung machen oder die nächste monatliche rsv-prophylaxe. nicht auszudenken, wenn mariele an einem für andere kinder banalen virusinfekt versterben würde.

vielleicht geht es auch nicht um unverständnis, sondern um das leben im jetzt, nicht an morgen denken, schon gar nicht ans zurücksehen, wie schlecht es ihrer tochter nach der geburt ging, an welch dünnem faserigen faden ihr leben hing. ich bin zwar kinderdokter, aber in die leben dieser eltern werden wir uns alle nie hineinversetzen können. mariele ist jetzt beinahe zwei, sie ist mir gegenüber als vertreter der ärzteschaft stets skeptisch, wie sowieso viele ihrer altersgenossen, aber sie nimmt eine normale entwicklung, ihre sprache ist hübsch, sie bewegt sich schnell, sie lacht sogar mit mir – auf entfernung. nur wenn sie sich sehr aufregt, zeugt ihr livides hautkolorit vom bauplan herz, der jetzt in ihrer brust schlägt.

im herbst kommt ihre bruderschwester auf die welt. noch ist ersie zu klein, um das herz begutachten zu können – aber schon sind die eltern voll tapferkeit, unverständnis für soviel glück und im leben hier und jetzt, dass das zweite nur gesund sein kann. wir hoffen es alle vier.

24 Antworten auf „mariele“

  1. Ok, ich will ja nicht Spielverderber sein, aber ich muss dann doch bald brechen vor lauter „Herzchen“ „tapfere Kämpfer“ „Onko-Schätzchen“ und Co. Wenn das eigene Kind eine lebensbedrohliche Erkrankung hat und schon in jungen Jahren viele Operationen und Therapien durchstehen muss, ist das natürlich im ersten Moment ein Schock. Aber auch die schlimmsten Situationen werden dann zum Alltag, den man bewältigen muss, will und auch kann. Und da gibt es Eltern, die auch Wochen und Monate danach noch bei jedem „Pups“ hysterisch werden, obwohl ihr Kind vielleicht excellente Prognosen hat. Und andere, die vielleicht sogar eher miese Heilungschancen haben, meistern diese Situation mit einer beeindruckenden Gelassenheit, Ruhe, Zuversicht, ja von mir aus auch Gottvertrauen, wenn man es religiös sehen will, da kann man nur staunen. Jetzt ratet mal, mit welcher Einstellung man so eine Situation besser bewältigt kriegt?!

    Und wegen der „Verniedlichungen“ der kranken Kinder: Ich kann mir nix davon kaufen, wenn die Freundin mein „tapferes Kämpferherzchen“ lobt, und mit ein paar Tränen in den Augen fragt, wie ich das alles nur schaffe, SIE fände das alles so furchtbar. Ich brauch da keine Verniedlichungen und Euphemismen. Freunde, die ganz praktisch helfen ohne Gegenleistung oder Dankbarkeit zu erwarten sind mir tausendmal lieber. Jemand, der uns sein Auto leiht, damit wir unabhägig für die Fahrten zu Klinik sind. Freundinnen, die reihum Essen kochen, damit ich mich nicht auch noch darum kümmern muss. Nachbar, die mir meine anderen Kinder stundenweise abnehmen, damit ich auch mal Zeit zum Luftholen kriege. Aber bitte doch nicht dieses „Aufspringen“ auf den emotionalen Zug und Öl ins Feuer gegieße….

    Und ja, ich darf so reden, denn meine Tochter ist mit anderthalb an einem aggressiven Krebs erkrankt, der nur miese Überlebensraten von 20% hergab. Und nebenbei gabs noch drei kleine Kinder zu versorgen, unter anderem ein Neugeborenes. Und ich rede da jetzt nicht nur von meinem persönlichem Empfinden sondern auch von vielen Freunden und Bekannten, die man auf einer der Krebsstationen macht, die „hoffnungslose Fälle“ aus aller Welt aufnimmt, um einen allerletzen Therapieversuch zu starten.

    Mein Kind mag vielleicht Krebs haben, ein Loch im Herz oder Mukoviszidose, ja. Aber es ist nicht in erster Linie „das kranke Schätzchen“, sondern mein Kind, das ganz normale Bedürfnisse, Fähigkeiten und Marotten hat. Und irgendwie macht es das Leben nicht leichter, wenn man von der Umwelt verbal, mimisch und in Taten permanent gespiegelt bekommt „oh, da kommen die mit dem armen totkranken Kind“….

    1. Ja, mag sein, ist sogar mit Sicherheit so, wie du sagst, ABER erstens bist du (leider!) mehr als gut im Thema „schwerkrankes Kind und Familie“ drin und hast daher eine sehr differenziert und auf vielen Erfahrungen basierende Haltung. Die kann man bei der Durchschnittsbevölkerung erst mal nicht so voraussetzen, insofern ist es eher unwahrscheinlich, dass die Leser dieses Blogs so reagieren wie von dir gewünscht.
      Zweitens muss man auch ganz klar unterscheiden zwischen der Reaktion eines Unbeteiligten Lesers, der einfach emotional reagiert und reagieren darf, wenn er von so einem Schicksal liest und dem Umfeld von tatsächlich betroffenen Familien. Der „reine“ Leser reagiert emontional in Hinblick auf das betroffene Kind und seine Familie und auch emotional indem er Dankbarkeit für die eigene Gesundheit und die seiner Familie empfindet. Ich halte so eine Reaktion für legitim. Dem Umfeld betroffener Familien ist durch so eine klare Ansage, wie du sie hier gemacht hast, sicher gut geholfen, denn Menschen wissen in Grenzsituationen selten, wie sie sich verhalten sollen, eben weil es Grenzsituationen sind.
      Ich hoffe, ihr habt diese Grenzsituation inzwischen hinter euch gelassen und dein Kind konnte wieder gesund werden!

    2. Ich habe mit meiner ersten tochter 7,5monate auf der nicu bzw normalen kinderintensiv verbracht u sie ist auch dort verstorben!die ‚armes kind’kommentare sind verständlich!eltern die in so einer situation sind können nicht anders,als damit zu leben u sich d situation anzupassen!aber wie sollen das andre verstehen?!
      Mich hat der post zu tränen gerührt u ein bisschen bewunderung ist balsam für meine seele!

  2. Ich glaube es gibt nichts Schlimmeres für Eltern als wenn ihr Kind krank ist. Bei einem kleinen Schnupfen leidet man schon mit, wenn man hört wie das Kind nachts im Schlaf hustet und wenn es etwas noch Schlimmeres ist, dann hätte man die Krankheit soviel lieber selber als der kleine Wurm, der nicht versteht, was mit ihm passiert. Ich drücke die Daumen für Mariele, dass sie weiterhin „gesund“ bleibt und fürs Geschwisterlichen natürlich auch!

  3. meine Fresse, da lernt man doch das, was man in „grauer Vorzeit“ Demut nannte und Dankbarkeit dafür, dass die eigenen Kinder und Enkel gesund sind.
    Alles Liebe für die Familie
    .. und vielen Dank an den Kinderdok für diesen Bericht.

  4. ich bekomm schon eine mitteschlschwere sorgenkrise, wenn eins der Kinder auch nur schnupfen hat – nicht auszudenken, was eltern ertragen müssen, wenn das leben des kindes so sehr am seidenen faden hängt…
    alles gute für die vier!

  5. nicht auszudenken, wenn mariele an einem für andere kinder banalen virusinfekt versterben würde.

    Das sollen sich all die Impfgegner mal ausdrucken und hinter den Schminkspiegel stecken: DAS sind die Kinder, die Ihr wegen Eurer Verantwortungslosigkeit (auch) in Lebensgefahr bringt.

    1. tibia! EINEN FETTEN APPLAUS FÜR DICH!!

      Du hast es sosososososo treffend auf den Punkt gebracht, KLASSE!!

      Und zu Mariele, diese Geschichte lieber Dok, geht wirklich ins Muterherz und über die Gänsehaut mit Druck auf die Tränchendrüse 😉

    2. äh… ja, fast. Deine Intetion ist löblich (impfen, um imunsupprimierte und schwer kranke Kinder, die selber nicht geimpft werden können, vor Ansteckung mit lebensbedrohlichen Krankheiten zu schützen). Nur leider brüllst du hier mal ins Leere: die banalen Virusinfekte, die hier gemeint sind, sind die üblichen Husten-Schnupfen-Heiserkeit-Viren, gegen die es keine Impfung gibt und die wahrscheinlich 90 % der üblichen Kinderarztpraxisklientel ausmachen („Herr Doktor, ´s Bobele hat 37,9 Fieber und schon seit Stunden läuft die Nase“). Die einzige Möglichkeit, Herz-/krebs-/aidskranke Kinder davor zu schützen besteht im meiden anderer kranker Menschen, tragen von Mundschutz und Händewaschen hoch 14.

      1. Erstens brülle ich nicht, und zweitens geht das keineswegs ins Leere. Die Welt ist halt nicht so schwarz-weiss … jede vermeidbare Exposition hilft. Und Exposition zu impfbaren Krankheiten ist fast zu 100% vermeidbar: wenn sich alle brav impfen lassen, geht die Wahrscheinlichkeit, sich an was impfbaren anzustecken gegen Null. Davon profitieren erstmal die Kinder, die sich (noch) nicht impfen lassen können, weil zu jung oder zu krank … und „krank“ kann auch durchaus temporär sein.

        Im zweiten Durchgang profitieren ALLE, weil sich KEINER mehr impfen lassen muss, wenn die Krankheit ausgestorben ist. Aber so weit denken die Impfgegner (die im Übrigen genau davon ja auch profitieren, dass sich fast alle impfen lassen) nicht. Impfgegnerei ist egozentrisch, asozial, unverantwortlich und einfach nur bäh.

        1. Ist ja alles richtig, nur passt es gar nicht zum im Artikel angesprochenen Punkt, weil es hier eben NICHT um impfbare Infektionskrankeiten ging!

          1. Steht aber da u.a. im Zusammenhang mit Impfungen:
            wenn wir die nächste – bei mariele besonders wichtige – impfung machen oder die nächste monatliche rsv-prophylaxe. nicht auszudenken, wenn mariele an einem für andere kinder banalen virusinfekt versterben würde.

  6. Ich habe ein Babysitterkind, welches bei der Geburt in die Hand des Papas passte. Er ist heute ein kleiner frecher gefühlvoller Bengel, der in die erste Klasse geht und dem es richtig gut geht. Und mittlerweile hat er auch zwei vollkommen gesunde Geschwisterchen bekommen! Viel Glück! Julie

  7. DANKE für diesen wunderschönen Artikel 😉 Ich hab hier auch ein Herzchen (TGA) und er „durfte“ gleich vom Kreissaal aus in das nächste Herzzentrum fliegen, wo wir dann die ersten 8 Wochen seines Lebens verbrachten. War nicht immer einfach, noch dazu mit zwei kleinen Mädels, damals 4 und 1,5 Jahre alt. Aber es war auch so toll mitzuerleben, wie schnell die kleinen Herzchen wieder fit waren und z.B. ein paar Tage nach einer OP wieder auf dem Gang rumwuselten. Umso schlimmer wenn es eines nicht geschafft hatte :-((((

    Und ich finde es wunderschön und auch sehr mutig nach einem Herzchen nochmal ein Baby zu bekommen und ich wünsch der kleinen Familie alles alles Gute! Und unsere Herzchen sind Kämpfer!! Das denk ich mir oft, wenn ich meinen Wirbelwind hier so angucke… Und die Docs verbringen wahre Wunder an unseren Kindern! Wenn ich dran denke, daß sie meinem Kleinen die minikleinen Arterien durchtrennt haben und wieder zusammengeflickt haben dann ist das einfach nur ein Wunder und ich bin sehr sehr dankbar für die Kunst der Mediziner!!

  8. Hallo Kinderdok, ich les schon lange bei Dir mit, und freue mich immer über den Wechsel zwischen Zoten aus dem Alltag, über seltsame Eltern, und Deiner eigenen Meinung, auch zu Alltäglichem, nicht Medizinischem, auch wenn es mal ein Video oder so is.
    Aber diese Geschichten zwischenrein sinds, die mich umhauen, fesseln. Ich weiß, wir sind alle Voyeure, wenn wir das lesen dürfen, aber trotzdem danke dafür, fürs Erden ab und zu, das Lernen der Erfurcht vor den Leben.
    Erinnert mich an Deine Worte zu den „vorkältewintergedanken“ http://kinderdoc.wordpress.com/2012/01/30/vorkaltewintergedanken/

    go on.

  9. ich lese hier schon sehr lange mit und diese geschichte berührt mich sehr, weil mein sohn auch einen herzfehler (pulmonalatresie) hat und direkt nach der entbindung einen monat lang auf der intensivstation lag. mittlerweile ist er 3 und sehr fit, gott sei dank. wir müssen immer zur regelmässige und sein lebhaftes wesen lässt mich tatsächlich oft „vergessen“, dass er einen herzfehler hat. aber im grunde denke ich jeden tag daran und ich bin dankbar für jeden moment, den ich mit ihm zusammen erleben darf und besonders dankbar, dass die medizin so fortgeschritten ist und die ärzte ihm helfen konnten (auch wenn es noch nicht ausgestanden ist). es ist tatsächlich ein wunder, dass ich jeden tag erleben darf.

    und jetzt muss ich mein kleines wunder daran hindern, sich die buntstifte in die nase zu stecken 🙂

  10. Das sind die Patienten, die man nach Hause nimmt, im Herzen trägt und die einen beschäftigen – ob man will oder nicht. Und es sind die Patienten, die einen demütig werden lassen, die einem bewusst machen und vor allem dankbar, dass es das Schicksal mit einem selbst so gut gemeint hat.

    Ich hoffe die tapfere kleine Familie wird mit einem gesunden zweiten Sonnenschein belohnt. Du wirst hoffentlich bei Zeit berichten…..?

  11. Ich musste mit meiner Lütten auch ins Kardio-OP (UKSH Kiel).. Das prägt, wenn das eigene Kind am offenen Herzen operiert werden muss (obwohl nur eine Kleinigkeit, ein kleines Loch am Vorhof beseitigt wurde) – und dann läuft die Lütte zwischen Kindern herum, denen ganz routinemäßig (für diese Station gesprochen) das halbe Herz fehlt. Da fühlt man sich trotz aller Ängste, allen Stresses doch dankbar, dass es „nur“ so eine Kleinigkeit war, die mit einer, maximal zwei OPs restlos beseitigt werden konnte. PS: Der Kardiologe meint inzwischen, dass er ohne Vorwissen nichts mehr vom Löchlein entdecken könnte.

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