nein: jetzt!

„Sagen Sie mal Herr Dokter, das ist ja toll, dass Sie jetzt noch da sind…“
Der Vater passt mich beim Zuschließen der Praxistür ab. Irgendwo im Hintergrund schlägt die Kirchenuhr sieben mal. Noch fünfmal mehr, und ich denke, es sei Geisterstunde.
„Naja, anwesend schon, aber eigentlich offiziell zwei Stunden nach der Sprechstunde.“
„Achja? Na Pech für Sie, was?“
Er zieht seine Tochter hinter dem Rücken hervor und schiebt sie in meine Richtung.
„Hier. Joseline-Mia. Die hat seit zwei Tagen Fieber.“
Ich schaue erst seine Tochter an, dann ihn, sehe die Aussichtslosigkeit meiner Lage und schließe die Praxis mit einem Seufzer wieder auf.
„Geht doch…“ murmelt der Vater und quetscht sich durch die Tür, kaum dass sie einen Spalt offen ist.
Ich kassiere seine Versichertenkarte, „Warten Sie hier kurz?“, und schicke sie in meine „2“.
Ich fahre den PC an der Anmeldung wieder hoch, lese die Karte ein und rufe die elektronische Karteikarte auf. Vertretungspatient. Bereits dreimal bei mir gewesen, davon zweimal ohne Termin und einmal eine halbe Stunde verspätet. Heute das dritte mal o.T.
„Na, hats gedauert?“ empfängt mich der Vater wieder, als ich durch die Tür komme.
„Hallo, Joseline, alles klar?“ Ich gebe der Kleinen die Hand. Sie nickt etwas traurig.
„Fieber hat sie?“ frage ich.
„Ja, zwei Tage. So achtunndreißig.“
„Hat sie Halsweh, Ohrenweh? Husten, Schnupfen?“
„Nö. Fieber halt.“
Ich höre seine Tochter ab, taste den Hals, die Lymphknoten, schaue in den Hals und die Ohren. Die Tonsillen sind riesig groß und vereitert.
„Kannst Du denn schlucken?“ frage ich Joseline-Mia. Sie schüttelt den Kopf.
Ich erkläre dem Vater das Krankheitsbild, gebe eine paar Tipps zum Essen, Ansteckungsgefahr und Dauer der Behandlung und schreibe ein Penicillin-Rezept raus. Von Joseline-Mia bekomme ich ein Grinsen, als ich ihr zum Schluß einen Smiley auf den Handrücken male.
„Na, dann war´s ja gut, dass wir gekommen sind“, sagt der Vater, während er seiner Tochter die Jacke überzieht.
Ich bringe die beiden zur Tür und schließe sie dann von innen ab. Jetzt darf ich noch den PC runterfahren, die Untersuchungsliege säubern und die Lichter löschen.

Es klopft an der Tür.
In der Kontur hinter dem Milchglas erkenne ich den Vater mit seiner Tochter.
Ich mache auf, und Joselines Vater steckt nochmals den Kopf durch den Türspalt.
„Sagen Sie mal, Herr Dokter, aber das hier…“ er wedelt mit dem rosa Rezept. „… reicht doch auch noch morgen zum holen, oder?“

46 Antworten auf „nein: jetzt!“

  1. Mir tut das Kind leid. Auch merkwürdig, dass der Vater nicht bemerkt haben will, dass das Kind nicht wirklich schlucken kann. Je nach Alter und Zustand des Kindes, stehe ich mit dem Fieber gleich auf der Matte.
    Wir waren für meinen Geschmack in letzter Zeit auch viel zu oft im Notdienst (2,5 Jahre und 4 Monate), aber krank sind meine Mäuse am liebsten am Wochenende. 😉 Und was wir schon die Apotheken bemüht haben, „unser“ Antibiotika zu besorgen. Da finde ich es furchtbar bis zum nächsten Tag warten zu müssen. So müssen die Mäuse noch länger leiden. Aber bis jetzt gab es immer eine Lösung und sehr hilfsbereite Apotheker im Notdienst.

  2. Respekt! Ein Arzt, der allein den PC hochfahren kann. Toll! Ist mir in meiner ehemaligen Laufbahn als Arzthelferin nicht so häufig begegnet.

  3. Was ich mich nach all den Kommentaren frage:
    Was macht Elter, dessen Arbeitszeiten mit den Praxiszeiten des Kinderarztes völlig unvereinbar sind? Jedes Mal Klinik scheint ja auch keine Lösung zu sein.

    1. Dasselbe wie Elter, dessen Kind krank ist und zuhause bleiben muss?
      Für solche Fälle muss man eben auch vorsorgen und sich Verwandte oder Bekannte warmhalten, die einspringen können.
      Und Notdienst ist nicht gleich Klinik, das ist eher wie eine Praxis, die eben aufhat wenn der durchschnittliche Kinderarzt zuhat. Die sind darauf eingestellt, dass alles, was nachts, am Wochenende oder Feiertag krank wird bei ihnen ankommt.

  4. Dreist!!! Aber wie heißt es so schön? Frechheit siegt.
    Wenn ein Kind zwei Tage lang Fieber hat, warum kommt man dann erst abends um 7 auf die Idee zum Arzt zu gehen? Klar es gibt immer irgendwelche Umstände die es verhindern früher zu kommen, wenn man sich nicht bemüht. Aber wo war das fiebrige Kind denn die zwei Tage? In der Schule? Im KiGa? Oder doch zu Hause bei Mama oder Papa.
    Kindergärten dürfen eine Gebühr erheben, wenn man sich nicht an die Zeiten hält. Könnten Kinderdocs auch einführen… 😉
    Kopfschüttelnde Grüße

  5. Da bräuchte man eine Notfallgebühr für Außer-Öffnungszeiten-Kommen wie in den Apotheken. Dann könnte man dem Kind helfen und (hoffentlich) die Eltern auf die Idee zu bringen, dass Feierabend ist und sie es nicht ganz so oft praktizieren…

    Ich hätte aber ganz ehrlich was gesagt. So, wie es ablief, hat der Vater ja keinen Grund, es das nächste Mal anders zu machen…

  6. Unverschämtheit, das Verhalten des Vaters! Und dann noch nicht einmal sofort das Antibiotikum abholen??? Ich war bislang EINMAL außerhalb der Öffnungszeiten beim KiA, allerdings telefonisch angekündigt. Der Dok war so freundlich, uns die Praxis Mittwoch mittags offen zu halten, da es – so sagte er – am Telefon ernst klang (und dann leider auch war). Ich habe mich hundertmal entschuldigt und bedankt, dass er so freundlich war, auf uns zu warten und dann auch gleich noch die Kinderklinik vorab zu informieren, damit wir dort keine Wartezeiten hatten und gleich in die richtige Abteilung kamen. — Auch wenn es ein Notfall war. Es war SEIN Feierabend, den er uns da opferte!

  7. Man, es gibt Leute, da kann man echt nur mit dem Kopf schütteln. Die denken wahrscheinlich, die ganze Welt drehe sich nur um sie und jeder Arzt/Apotheker/Verkäufer oder sonstwas warte nur darauf, herbeizuspringen um ihnen zu helfen. Und leider sind es dann wohl die Kinder, die das ausbaden. Ich will garnicht wissen, was die Joseline vielleicht sonst noch aushalten muss. („Du hast Halsschmerzen? Na ein paar Stunden hälst du noch durch, wa, dann gehen wir zum Arzt und müssen auch nicht warten.“ *spekulier*) Ich find’s toll von dir kinderdoc, dass du dann wirklich das Wohl des Kindes im Blick hast und sie nicht wegen solcher Eltern leiden lässt. Da du sowas ja von diesen Eltern nicht gesagt kriegst, lass es dir von mir sagen: „Dankeschön.“

  8. kann es sein, dass dieser Vater am Sa bei mir auf der Matte stand? Ich hab heut früh unseren AB im Laden abgehört und ne bitterböse Nachricht bekommen, dass ein Herr X um viertel nach 1 bei uns am Laden steht und was abholen will und wir haben doch TATSÄCHLICH schon zu! Echt mal! Unsere Öffnungszeiten sind, wie an der Ladentür, auf der Homepage UND bei FB nachzulesen ist, am Sa von 9-13h. Und blöderweise haben meine Kollegin und ich auch beide kleine Kinder daheim und ignoranterweise auch sowas wie ein Privatleben und waren tatsächlich so frech, um viertel nach 1 nicht mehr anwesend zu sein. Naja, schaun mer mal. Ich war dann so frei, eine E-Mail mit Entschuldigung für diese unsere Unverschämtheit 😛 und unseren Öffnungszeiten zu schicken. 😀

  9. unverschämt.

    auch toll: 25.12., notdienst (mit einem doc, der auch kinder zu hause hat).
    telefon klingelt, patient mit halsschmerzen seit 4 tagen wird sofort einbestellt, da es schon 11.39 ist und die notfallsprechstunde von 9 bis 12 geht.
    „jetzt? DAS geht aber nicht, meine frau hat das essen auf dem herd! frühestens um 14 uhr.“

    1. übrigens machen das viele eltern, dass sie abends um 20 uhr auf der matte stehen, weil ihr kind seit tagen krank ist, der kinderarzt aber unverschämterweise um 20 uhr nicht mehr erreichbar ist.
      der verweis auf den kindernotdienst wird ignoriert, denn da muss man ja warten. logo, ist ja auch in der klinik.

      leider sind die fremdpatienten die unverschämtesten. wenn man sich dann mal mit den MFA dort unterhält, erfährt man dann so manches.

  10. oh mein gott. hast du geduld. ich persönlich finde daran ja am merkwürdigsten, dass er nicht mal wusste, dass sein kind halsweh hatte. müsste man sowas nicht merken?! O.o

    1. Das dachte ich mir auch, bei denen läuft wohl zuhause mehr schief als man merkt, das Verhalten ist wohl nur die Spitze des Eisbergs. Deshalb umso mehr Respekt für die spontane Entscheidung zur Behandlung, denn auch Kinder beknackter Eltern sind hilfsbedürftig, auch wenn die Eltern es nicht hinbekommen, beizeiten zu kommen.

    2. Und wenn man das mit dem Halsweh schon nicht mitbekommen hat, dann will man doch normalerweise, wenn man dann davon erfährt, dass die Schmerzen so schnell wie möglich für das Kind vorbei sind, oder?!
      Keine Eltern sind perfekt, aber das leibliche Wohl eines Kindes sollte in der eigenen Prioritätenliste doch eigentlich ziemlich weit oben angesiedelt sein. Aber ich fürchte, es gibt nichts im Verhältnis zwischen Kindern und Eltern, was es nicht gibt. Und Kinderärzte bekommen nunmal jede Menge davon mit (und eben auch ab).

  11. Wer um Himmels willen fährt denn abends um die Zeit mit einem fiebrigen/kranken Kind durch die Gegend und klappert Arztpraxen ab? Wo abends um sieben mit großer Wahrscheinlichkeit (Ausnahmen bestätigen die Regel offensichtlich) keiner mehr anzutreffen ist? Nur um Wartezeit zu sparen (die allerdings stattdessen Rumfahrerei-Zeit wird)?! Und das (ich wiederhole mich) mit einem kranken Kind?! *kopfschüttel*

    1. Ich versteh das auch nicht. Bei uns gibt es einen Kindernotdienst neben der Kinderklinik, da kann man hin wenn außerhalb der Sprechstunden irgendwas (dringendes) ist. Das teilt einem auch der Anrufbeantworter der Praxis mit. Ich weiß ja nicht, wie das in anderen Städten geregelt ist, aber ich denke, die meisten Kinderärzte würden hier die Tür nicht wieder aufschließen und den Papa samt Joseline dorthin verweisen. Zu Recht.

  12. Vielleicht hat der Mann angenommen, dass sein Kind bereits mit der Verordnung kuriert ist. aber um evtl eine Lanze für den merkwürdigen Zeitgenossen zu brechen: Wenn wir Antibiotikum brauchen ists in der apotheke jedes zweite Mal nicht vorrätig. Die fragen dann dort auch immer: Reichts auch morgen? Wir bestellens dann jetzt 😡

    1. Wenn man sehr früh morgens zum Arzt kommt und dann gleich in die Apotheke geht, können sie es bei uns oft noch bis zum Nachmittag bestellen. Wenns ganz dringend wäre würd ich vielleicht den Apotheker bitten, bei einer anderen Apotheke anzurufen ob sie es vorrätig haben. Aber wenns nunmal nicht da ist, können die halt auch nicht hexen.
      Ich hatte am Wochenende ein ähnliches Problem, mein Kleiner hatte Do den Nachmittag lang ein paar Mal Nasenbluten, Fr. Morgen wieder, also bin ich Freitag früh dann gleich zur Ärztin mit ihm. Die hat mir ein Spray und eine Salbe aufgeschrieben; ich bin zur Apotheke, und die Dame da fing an rumzuzicken: Das ist zum Anmischen, da muss sie Protokolle schreiben und dokumentieren etcpp., das ist erst morgen fertig. Auf meine Frage, ob das nicht ein bisschen früher ginge hab ich ihr schließlich gnädig meine Handynummer dalassen dürfen, wenn sie es zwischendurch fertig kriegt ruft sie mich an. Natürlich kam den ganzen Tag kein Anruf, und Söhnchen hat fröhlich den Freitag über bei jedem Nieser weitergeblutet.

      1. Das hat dann wohl eher was mit ungünstiger Personalplanung von Chefseite zu tun. Wenn die Apo knapp besetzt ist muß man die Kunden um Zeit bitten, um die Rezepturen in ruhigere Zeiten verlegen zu können. Wenn gerade viel zu tun ist, kann nicht mal eben eine(r) für eine halbe Stunde (bei manchen Sachen auch länger) in der Rezeptur verschwinden. Leider ist in vielen Apotheken das Personal sehr knapp bemessen, was dann zu solchen Problemen führt, wenn doch mal ein Kunde kommt, der eine Rezeptur sofort braucht.

  13. Einfach unglaublich – ich hab schon ein Problem damit die Handynr.unserer KiÄ zu wählen, die als Notfallnummer auf dem AB der Praxis drauf ist. Ich würde dann doch eher in die Kinderklinik fahren. Habe ich auch schon gemacht, weil die Öffnungszeiten in der Praxis leider nicht ganz so toll sind (oft nur vormittags). Und die Vertretungspraxis immer total überlaufen. Da die Kinderklinik auch als Vertretung angegeben ist, bin ich bisher einmal dort aufgetaucht.

    1. Eine Kinderklinik ist aber kein Kinderarztersatz. Sie hat eine NOTfallambulanz. Je mehr Leute mit diesen Begründungen ( KiA ist überlaufen) kommen, um so weniger Zeit haben die Ärzte in der Klinik Zeit für die “ richtigen“ Notfälle und die Patienten,die leider schon in der Klinik bleiben müssen. Sorry, rede aus eigener Erfahrung.

  14. Was ist so schwer dadran vorher anzurufen?! Sicherlich könnte man mit einem kranken Kind auch noch kurzfristig kommen.
    Und dann auch noch der Vater am Ende…

    1. Ich finde es nur halb so wild (im Vergleich), dass der Vater ohne Ankündigung vorbeikommt. Vielleicht absolut sponaten Entscheidung, vielleicht auch einfach Nachlässigkeit. Was ich an der ganzen Geschichte so dreist finde, ist, dass er nach dem Verschreiben von Penicillin (immerhin ein Antibiotikum) und diesem Termin-auf-den-letzten-Drücker dann nicht sofort zur Apotheke geht, damit seiner Tochter geholfen wird, sondern die Eile dann wohl nicht mehr sieht….

      Das kann ich nicht verstehen. Wenn mir ein Antibiotikum verschrieben wird, dann suche ich sofort (!) die nächste Apotheke auf. Und nicht erst am nächsten Tag, weils bequemer ist, als die Notfallapotheke aufzusuchen.

      1. Ich verstehe seine Logik schon. Er war sicher zuerst beim Hauskinderarzt, der hatte aber zu. Also versucht er es bei einem anderen. DENN: um diese Zeit noch einen Arzt anzutreffen heißt, keine Wartezeit. Das hat ja schon mindestens einmal geklappt.
        Das ist eine absolut eklige Einstellung und spätestens beim rausgehen und dieser blöden Frage hätte ICH ihm die Meinung gegeigt, dass das so nicht geht und ER schließlich auch froh wäre, wenn er Feierabend machen kann. Die Beschwerden waren 2 Stunden früher sicher auch schon da und selbst wenn nicht, gibts den Notdienst. Die schaffen es auch, in den Hals rein zu schauen.

    1. Dieses „selbstverständlich“ hinnehmen kenne ich aus einer anderen Branche aber auch. Wenn am Sonntag um 11 Uhr ein komplexes Problem vorgetragen wird, ist der Kunde nicht erstaunt, a) jemanden anzutreffen, b), dass das Problem am Sonntag gelöst wird. Ein „Danke!“ habe ich in den seltensten Fällen gehört und NEIN, ich arbeite weder als Arzt noch in sonst einer Branche, in der es einen Notdienst geben muss.

    2. Das Verhalten des Vaters hat das Ganze nicht nur als „selbstverständlich“ tituliert, sondern es war auch hochgradig dreist! Wenn man schon keinen Anstand hat sich zu entschuldigen, eine Ausrede zu erfinden, oder oder oder, dann sollte man sich zumindest so dummdreiste Sprüche verkneifen.

      Erinnert mich ein wenig an letztes Weihnachten. Ich musste arbeiten und habe mit meiner Kollegin das Café um 14 Uhr abgeschlossen und wir haben uns um die Kasse gekümmert. Um zehn nach klopft es an unserer Seitentür und davor steht ein leicht verzweifelt aussehender Mann. Ob er unsere Toilette schnell benutzen könnte.
      Soweit alles ok, ich bin ein netter Mensch, lasse ihn rein, wir beenden die Abrechnung der Kasse und… warten. Und warten. Und warten. Über eine halbe Stunde später hat der Mann sich erbarmt wieder auf zu tauchen und wollte dann noch ein Pläuschchen mit uns halten. Ich habe ihn dann nicht mehr ganz so nett hinaus komplimentiert.

    1. fürs Dampfablassen wäre es sicher besser gewesen. Aber mit der Zeit wird man gelassener: Freundlich zum Kind, kurz angebunden zum begleitenden Erwachsenen und: die Visite schnell beenden. Kein überflüssiges Wort. Fange ich da an zu diskutieren, ist meine Stimmung im Anschluss noch schlechter und ich noch zehn Minuten später zu Hause.

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