Alles relativ

„Sagen Sie mal, Sie sind doch da der Kinderarzt…“, die Frau hinter der Wursttheke zeigt vage durch den Supermarkt, Luftlinie gen meiner Praxis.
„Ja…?“, frage ich, bereits mutmaßend, dass ich die Wehwehchen des Enkelkindes beurteilen soll.
„Ich hab da mal eine Frage.“ Wusste ich´s doch.
Ich nicke ihr aufmunternd zu.
„Das mit dem Krepps ist auch wirklich schlimm bei den Kindern, oder?“, sagt sie und wischt sich die Hände an der Schürze ab.
„Ja, … sicher.“
„Und ist das denn auch so häufig?“
„Naja, das ist alles relativ“, ich nehme den verpackten Aufschnitt und den viertel Bergkäse von der Theke.
Sie: „Ja, und wie häufig? So bestimmt bei zehn Kinder eines, oder?“
Ich: „Nein, so viel nun auch nicht.“
Sie: „Nicht, aber im Fernsehen…“
Ich: „Nun, im Fernsehen…“
Sie wischt die Theke mit einem rosa Lappen ab. „Ja, gell, soviel sind das nicht, gell, das habe ich auch zu meinem Mann gesagt.“
Ich: „Vielleicht in einem Jahr zwei oder drei Kinder in der Praxis?“
„Ach?“, macht sie, hält mit dem Wischen inne und fixiert mich mit ihren blau schimmernden Äuglein. „Doch so wenig? Na schau an. Und warum machen die dann immer so Werbung damit im Fernseh?“

22 Antworten auf „Alles relativ“

  1. Klar, die Kriegsmütter stehen nicht mehr hinter der Theke aber eine Generation weiter sieht es oft noch ähnlich.
    Es ist eben wirklich immer alles relativ und hängt von den persönlichen Erfahrungen ab. Ein Freund von mir war lange im Krieg, der sieht das Leid in Deutschland auch mit anderen Augen. Manchmal klingt das herzlos aber wer tausende von Menschen elend verrecken gesehen hat lässt sich von einem wohl behüteten sterbenden Kind was bestens umsorgt wird nicht mehr schocken. Klar ist es richtig und wichtig auf Möglichkeiten hinzuweisen wie man helfen kann. Klar ist es tragisch wenn Kinder sterben.
    Teilweise wirkt es in den Medien aber tatsächlich so als würde Krebs bald die ganze Bevölkerung dahin raffen. Das finde ich oft auch überzogen. Jede Generation hat ihre Krankheit.
    Eine trockene Einschätzung ist da oft sinniger als blinde Sorge oder Angst. Meine Mutter starb an Krebs. Ich bin DKMS registriert und achte auf mich. Ich spende außerdem. Viel mehr kann ich nicht tun und denke nicht, dass ich nun ein schlechterer Mensch bin, dass ich das nüchtern sehe.

  2. Immerhin hat sie jemanden mit Ahnung gefragt.
    Unwissend bleiben (wollen) – das ist Dummheit. Wer fragt (nach Möglichkeit den Richtigen), der zeigt Intelligenz.

    Und täusch ich mich, oder geht die allweihnachtliche Betroffenheits-Spendensammelei wieder frischfröhlichfromm voran?
    Jedenfalls grinst mich überall ein Zahnlückenkind an (statt Schlafzimmerblick Lana, immerhin..), am Bahnhof bettelt die Mission, die Caritas ruft auch Sonntags an und offenbar zeigt auch das TV wieder mehr Empathietreibstoff?

  3. Vielleicht nicht Herzlosigkeit sondern Selbsttherapie? Vielleicht hofft sie ja ganz innig, dass der erwähnte Enkel nicht an Krebs erkrankt? Wenn nicht so viele Kinder krank werden, dann muss man sich nicht vor Sorge – die einen lähmt und wahnsinnig macht – zerrütten, dass das geliebte Kind auch so schwer krank werden könnte.

    (PS. Tolle Idee mit dem Senf! Liest sich in manchen Kommentaren echt so!)

  4. da sieht man doch, wie sehr verrohend TV – und hierbei vor Allem die Privaten – wirken
    nein, ich esse nicht so viel, wie ich kotzen möcht‘

  5. Ich denke, die Verkäuferin hat den Film Seelenvögel gesehen, der am Vorabend lief (wenn das Posting im zeitlichen Zusammenhang zum Gespräch steht), und war wie wohl die meisten Zuschauer ergriffen und erleichtert, daß das Schicksal der Familien und besonders der Kinder eher eine Ausnahme als die Regel ist – und das ist auch zu verstehen.

    Werbung ist natürlich eine falsche Wortwahl, aber ich würde ihre Aussage eher als erleichtert und wohlwollend als hartherzig einschätzen.

    LG

    1. Ich unterschreib das mal fast komplett so, tippe aber eher darauf, dass sich die Aussage auf einen der aktuellen Spots der DKMS bezieht (www.youtube.com/watch?v=gmtLJNJsD3Y). Und dann stimmt’s sogar mit der Werbung.

  6. Hmm naja. Das klingt zwar jetzt erstmal nicht so einfühlsam aber die Dame schien ja schon älter zu sein. Möglicher Weise Kriegsgeneration?
    Ich kenne das von meiner Oma, die ihr behindertes Kind im Krieg verstecken musste bis es dank fehlender ärztlicher Vorsorgung im Keller einging. Die sagte mal zu mir „ja es ist schlimm für Eltern aber es ist nichts womit man sich lange aufhält oder worüber man jammert, fast jede Mutter hat doch Kinder verloren, das ist doch normal, wer damit nicht umgehen kann, das Kinder sterben sollte keine bekommen.“
    Ich hab auch erst geschluckt aber damals haben wirklich viele Mütter Kinder im Krieg verloren und da shocken einen vielleicht ein paar vereinzelte kranke Kinder aus behüteten Verhältnissen nicht so.

    1. Das mag wohl sein. Aber die Frauen, die im Krieg bereits Mütter waren und Kinder verloren haben, stehen im Jahr 2012 hinter keiner Wursttheke mehr. Meine Oma war bei Kriegsausbruch 18 Jahre alt, ist also Jahrgang 1921, somit 91 Jahre alt. Haut nicht ganz hin. 😉

  7. Alter…
    Ich bin 19 und hab Krebs und bei solchen Leuten kann man einfach nur hoffen das da vllt irgendwann Hirn nachwächst. Zumindest hat sie versucht sich zu informieren…

  8. Ein gutes Beispiel dafür, wie wenig sich manche richtige Gedanken machen und nur an der Oberfläche eines Themas kratzen, wenn überhaupt.

    Für jeden einzelnen Betroffenen ist es ein furchtbares Schicksal, wenn ihn der Krebs diagnostiziert wird. Bei Unfalltoten ist das auch jedem klar, das jeder Tote – und sei es nur einer – zuviel ist. Auch in anderen Bereichen werden gerne die Zahlen verharmlost und somit die einzelnen Betroffenen nicht mehr wahrgenommen.

    Die Wise Guys haben ein humorvolles Lied zum Thema Relativ
    [youtube http://www.youtube.com/watch?v=AaOHMxJ_-N4&w=250&h=141%5D

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