Wunder der Rhetorik

Wir haben hier einen vierjährigen Jungen mit Balanitis – einer Entzündung am Penis, es ist rot, es ist dick, ja, das tut auch weh.

Ich: „Sie waren doch gestern schon mal da.“
Vater: „Is´ nicht besser geworden.“
Ich: „Wie oft haben Sie die empfohlenen Umschläge jetzt gemacht?“ = Rivanol, ein Alkohol, desinfizierend, kühlend, mehr kann man eigentlich nicht machen.
Vater: „Na, so zwei oder dreimal. Is´ nicht besser.“
Ich: „Wunder finden woanders statt.“ Ich zeige vage Richtung Fenster – neben der Praxis steht die katholische Kirche.
Der Vater macht eine unwirsche Bewegung. „Gucken Sie nochmal. Muss man was machen.“
Der Vierjährige steht derweil auf der Untersuchungsliege, jammert vor sich hin – weil ich im Raum bin – die Mutter, ja, auch anwesend, hält ihn fest.
Ich: „Dann dürfen Sie mal kurz die Hose runterziehen.“
Mutter: „Das macht er nicht, war gestern schon schwierig. Will er nicht.“
Ich: „Das schaffen Sie schon.“
Ich warte, ich gucke, die Mutter fitzelt am Hosenbund rum, der Junge zieht die Hose jeden Zentimeter wieder hoch, den sie gewinnt. Das geht so ein paar Mal.
Ich: „Ich geh dann mal kurz raus, schau noch ein anderes Kind an, Sie können solange mal dran arbeiten.“ Und verlasse das Untersuchungszimmer.

Zehn Minuten später komme ich wieder, die Situation ist wie oben – Hose ist oben, Mutter zieht, Sohn zieht, Vater sitzt und sagt nichts.
Ich: „Da sind Sie aber noch nicht viel weiter.“
Mutter: „Der will halt nicht.“
Ich: „Aber wenn Sie jetzt zuhause wären, er muss ins Bett, dann muss die Hose ja auch aus, oder? Sie sind doch der Chef, oder?“
Vater: „Der will halt nicht.“
Ich: „Dann müssen Sie eben etwas mehr Nachdruck reinlegen, etwas sanfte Gewalt.“
Die Mutter zieht etwas stärker als vorher, der Junge macht die marginale Erhöhung an Newton-Meter aber problemlos wett.
Ich: „Also, muss ich das jetzt machen?“
Vater: „Wenn Sie´s angucken wollen.“
Ich: „Ja, soll ich nicht? Oder warum sind Sie da? Dann darf wohl ich jetzt etwas mehr Gewalt anwenden.“
Der Vater steht auf. „Sie schlagen mein Kind nicht!“
W…? t…? F…?
Ich: „Wer redet denn von sowas?“
Vater: „Ich sach nur: Sie schlagen mein Kind nicht!“
Ich schüttele den Kopf. Stelle mich an den Wickeltisch und ziehe die Hose samt Unterhose mit einem Zug nach unten, bevor der Junge irgendwas sagen kann. Er schaut beleidigt zu seiner Mutter.
Mutter: „Der Doktor guckt nur. Ist gleich vorbei.“
Ich gucke, es ist gleich vorbei, der Penis sieht noch so aus wie gestern – nicht wirklich sehr geschwollen – , ich ziehe die Hose wieder hoch.
Ich: „Wie gesagt. Machen Sie bitte so weiter, die Behandlung dauert ein bisschen.“
Vater: „Aha. Und das war´s jetzt?“
Ich: „Ja. Das Schwierigste war ja die Hose, oder? Und jetzt haben wir es auch so geschafft…“, ich schaue dem Vater in die Augen, „…auch ohne Schläge.“
Gehe zur Tür, zwinkere dem Jungen kurz zu und hebe die Hand zum Gruß. „Wird schon. Schön weiter dreimal täglich die Umschläge machen, dann ist das in ein paar Tagen wieder gut.“

Zwei Minuten später geht die Familie an der Anmeldung vorbei. Die Eltern unterhalten sich gedämpft. Der Vater hebt nur kurz den Kopf und sagt zu meiner Arzthelferin mit einer Kopfbewegung in die Richtung, in die ich verschwunden bin: „So ein Arschloch, Ihr Chef!“

48 Antworten auf „Wunder der Rhetorik“

  1. Da wird es mir einfach schlecht. Jeder hier weiß es besser, kann es besser, lässt seine Kinder natürlich, um gotteswillen, wie kann man nur, keine Reiswaffel im Sprechzimmer essen. Eben nur im Wartezimmer! Und das alles wohl überlegt und reflektiert. als fühlte man sich ständig ertappt, ständig die Angst etwas falsch zu machen. Was denkt der Kinderarzt nur von mir? Aber entspannt euch: Jeder kommt mal dran. Wenn nicht Chantalismus, dann eben Emilismus. Wenn du es schaffst deinem Sohn die Hose runterzuziehen, dann hat er es eben nicht selbständig genug getan oder vielleicht hat er die Hand nicht gegeben… oder du hast vielleicht ein Mamasöhnchen erzogen? Egal, irgendwas lässt sich immer finden.
    Machen wir uns weiter lustig, wissen es besser und kotzen ab über Eltern. Die moralische Verantwortung trägt ja der kinderdoc.

    1. Ach du meine Güte – lesen wir denselben Blog? Sind doch (fast) alle ganz lieb hier! Und das nennt man nicht „Abkotzen“, sondern Austausch von Meinungen und Erfahrungen!
      Und ich denke, keiner hier beansprucht für sich, alles besser zu wissen, es gibt sich nur einfach Jeder verdammt viel Mühe, es am Besten zu MACHEN! Kein Grund, sich aufzuregen……

  2. Mal ne Frage zur Behandlung: manche sagen immer, Rivanol oder auch Betaiso seien da obsolet. Kann man statt dessen Umschläge mit Octenidin-Lösung machen?

    1. Wüsste nicht, was gegen Rivanol spricht – ein uraltbekanntes Antiseptikum, bisher ohne „Verruf“.
      Betaiso ist wegen der Jodbeimischung in grossen Mengen bei kleinen Kinder und grossen Flächen tatsächlich schilddrüsenrelevant.
      Octenidin geht auch.

  3. Die Geschichte erinnert mich an einen Freund, welcher seine Kinder (2 und 4) im Auto weder anschnallt oder im Kindersitz setzt.Seine Erklärung dazu:“Wollen sie nicht.“
    Ach so, ja dann…

  4. Na, vielleicht waren die ja auch genervt, weil Kinderdok indirekte Erziehungs-/whatever-Kritik geäußert hat, von wegen „Sie sind doch der Chef!“ und so….. Hatte mal einen ähnlichen Dialog mit unserem Kinderarzt.
    Ich. „Ja nu, er will nicht, was soll ich machen? Soll ich ihn etwa ZWINGEN???“
    KA: „Ja, äh, also SIE sind doch der Chef!“
    Ich: „Grrrrrr!“
    … Bis mir dann auffiehl, dass er Recht hat!
    Man liebt seine Kinder so sehr und will immer alles richtig machen und den Kindern nur „Gutes“ tun, dass man eben manchmal vergißt, Erzieher und nicht bester Freund zu sein…..

    1. Ja diesen dämlichen Kommentar mit durchgreifen erhielten wir auch als unsere Tochter bei der U7 (oder a?) nicht sofort kooperierte, als der Arzt sie unsanft umdrehte um sich ihren Rücken anzuschauen.

      Erst der etwas unsanfte Kommentar von meinem Mann, dass wir
      a) das Kind auf die U vorbereitet haben und dabei diesen Punkt Rücken anschauen nicht erzählt haben, weil wir es nicht wussten (denn alles andere von dem sie wusste hat sie ordentlich mitgemacht)
      b) bei unserem Kind Wert auf Höflichkeit legen und man ihr vielleicht hätte einfach sagen sollen, was man von ihr erwartet. dann hätte sie wohl auch kooperiert.

      1. Nun ja.
        Ich halte diese indirekten Kritiken an der Erziehung für völlig gerechtfertigt, Vorsorgeuntersuchungen gehen ja über das reine „wir schauen mal den Körper an“ hinaus. Oft genug werden wir ja auch nach verhaltensproblemen der Kinder befragt.
        Vorbereitung finde ich Spitze, unglaublich wichtig für die Kinder, aber man sollte noch nicht den Blick dafür verlieren, wer die Autoritäten sind. In erster Linie mal die Eltern und dann der Arzt. Oft genug wird aber den Kindern die Entscheidungsfreiheit und auch Einverständnis überlassen. Das kann in einer solchen Situation aber nicht sein.
        Absolut richtig: es sind zu erziehende Kinder und keine Freunde.

        Jetzt bin ich auf Schelte gespannt.

        1. Also von mir nicht, ist ja genau das, was ich meine!
          Die Sache ist nur einfach die: wer läßt sich (als Erwachsener) schon gern wad sagen…..? Wie oben erwähnt, reagiere ich da fast immer erst mal mit Abwehr, egal, ob der Andere Recht hat oder nicht. Aber zum Glück sind wir ja lernfähig ;-P

        2. Ohne Schelte 😉
          völlig richtig ist: Das Kind muss da durch.

          Aber aus der Verweigerung eines 2jährigen Kindes in der Momentaufnahme von einer Minute einen Erziehungsstil abzuleiten, halte ich für fragwürdig.
          Insbesondere wenn die Verweigerung daraus resultiert, dass der Kinderarzt wortlos und ohne Vorbereitung am Kind hantiert und es dreht und wendet.
          Auch einem Kinderarzt tun 2 oder4 erklärende Worte nicht weh.

          Denn die Situation wäre so einfach nicht aufgetreten, wenn der Kinderarzt seine eigene Handlung kommentiert hätte. ich weiß nicht ob er es wirklich eingesehen hat, aber er hat danach kein Wort mehr über die Erziehung verloren.

          Es ist auch keine Situation, die ich mit einem auf der Straße stehendem Kind vergleichen würde. Der Unterschied ist hier die Gefahr, die bei Nichtreagieren auf der Straße entsteht. beim Kinderarzt sehe ich keine Gefahr.

      2. Unsere Mittlere hat mal mit Totalverweigerung eine U geschmissen. Die Sprechstundenhilfe sagte, sowas stures hat sie noch nie erlebt, normalerweise geben die Kinder irgendwann nach. Unsere nicht. Was sollte ich machen? Ich kann sie schlecht zwingen, zu sagen in welchem Ohr es piept und was sie sieht und überhaupt … Unsere KiÄ trug es mit Fassung, mir war das völlig peinlich.

        Ansonsten lasse ich meine Kinder schon manchmal mitentscheiden – auch beim Doc. Aber immer im Rahmen des Machbaren. Impfung z.B. hat die Jüngste letztens bestimmt, dass wir die mit der U machen und keinen neuen Termin. Das war ihr wichtig, dafür gabs aber eben auch kein Um-sich-Schlagen-und-das-Kind-mit-drei-Leuten-festhalten-müssen. Das war mir wichtig. Und sie ist entsprechend gelobt worden. Ausziehen bei Untersuchungen hat sie lange gehasst und abgeblockt – aber da musste sie durch, da kann ich Mama Rabbiata sein. 😉

    2. Ich denke, alles hat seinen Platz und seine Zeit. Sicher ist es nicht schlecht den Kindern zu erklären, was geschieht und warum. Aber es ist eben auch wichtig, dass die Kinder lernen im Zweifelsfalle erstmal zu gehorchen und erst hinterher zu fragen. Ich diskutiere kein Kind von der Straße runter, ich sage komm da runter und wenns nicht hört zieh ich es am Arm. Es ist auch für ein Kind wichtig so viel Vertrauen in seine Eltern zu haben dass es nicht erstmal alles hinterfragen muss was sie sagen. Später kann (und sollte) man seine Gründe durchaus erklären, dann klappt es beim nächsten mal bestimmt auch auf Anhieb besser.

  5. Hm… ich habe die Eltern ja nie, wenn ihr Kind krank ist, sondern in der Schule, wenn die Frucht angeblich gesund sein soll… Da muss ich den Damen und Herren schon mehr erklären, damit die verstehen, was ich von denen will (Und das bei so einfachen Dingen wie: Bitte am Ende jeder Woche einen Blick in den Schulplaner des Kindes werfen.). Wenn die Eltern so etwas gewöhnt sind, war der wortarme Kinderdok sicher eine Enttäuschung. Es ist ja nunmal so, dass die Kommunikationsfähigkeiten von Erwachsen immer mehr nachlassen…

      1. Neeeneenee, Ärzte und Physik. Dabei weiß doch jeder, dass Fahrenheitpfund pro Gallone hier die richtige Einheut wäre 😀

        (Bitte den anderen Kommentar löschen, ich war zu doof um auf Antwort zu klicken)

      2. Ich plädiere abschließend für Newton, die gute Frau hat ja einfach nur ihre Kraft erhöht. Dass da auf beiden Seiten die Spannenergie steigt, ist irrelevant.

        (Übrigens habe ich tatsächlich auch noch die simple Äquivalenz von 1 Nm = 1 J im aus der Schule im Kopf. Das war, auch wenn Wikipedia das leugnen mag, vor zwanzig Jahren so üblich, dass man 1 N * m nicht (N x m) als Energieänderung gelehrt hat.)

  6. Vermutlich wäre rhetorisch „mit etwas mehr Durchsetzungsvermögen“ besser gewesen. Ich hätte auch sehr reserviert bei dem Wort „Gewalt“ reagiert. Wobei ich den KiDoc nicht als A-loch bezeichnet hätte nach der Aktion.

    Ich vermute übrigens auch, dass der Bengel daheim das Theater macht und machen kann und sich deswegen die Umschläge eher in begrenzter Anzahl durchführen lassen.

    1. Ja, das war sicher eine Sache der Fehlinterpretation meiner Worte, aber für gewöhnlich macht man auch nonverbale Gesten, und ich bin mir sicher, ich gestete eher „Hoserunzerziehen“ als „Backpfeife“

  7. Verzwickte Situation, v.a. wenn es um Rhetorik geht. Vielleicht wäre ein kleiner Hinweis, was mit „etwas mehr Gewalt“ gemeint war, angebracht gewesen? Ich hätte kein gutes Gefühl gehabt, das Ganze so im Raum stehen zu lassen, auch wenn es einfach ein dummes Missverständnis war. lG, H.

  8. Ehm, ich mag mich irren, aber das Wunder der Rhetorik könnten auch Sie sein – ist es denn wirklich so unvorstellbar, dass der Vater „Gewalt anwenden“ mit „schlagen“ gleichsetzt und sich deshalb zurecht wundert?

  9. Ich mag mich irren – aber kann es sein, dass eventuell der Sohnemann auch die Rivanol-Umschläge mit Händen und Füßen abwehrt, die Eltern dieses aber lieber nicht erzählen wollten? Der Kinderdok hat doch sicher einen anderen „Trick“ – einmalig eine Super-Salbe draufgeschmiert, oder eine Tablette zum schlucken – und schon ist alles wieder gut… Und der „pöse Kinderdok“ hat einfach nicht mitgespielt und den K(r)ampf – 3x tgl. samt schön gelber Rivanollösung – an das elterliche Zuhause zurücküberwiesen? Wäre eine Interpretationsmöglichkeit der Geschichte.

    1. Einen ähnlichen Gedanken hatte ich auch. Habe die die Umschläge überhaupt gemacht wenn das schon so ein Aufstand ist ihn auszuziehen? Wenn er doch nicht will?!

        1. Da habe ich mich dann tatsächlich geirrt – ich wollte auch nichts unterstellen. So etwas passiert, wenn man nicht alle Informationen hat und sich seine Gedanken macht. Aber möglich wär es gewesen… Aber (für mich) ein reales Beispiel, wie das Fehlen einer (für den Berichtenden offensichtlichen und daher nicht so wahnsinnig wichtigen) Information beim Medienkonsumenten zu „Fehlschlüssen“ führen kann. Ich habe wieder was gelernt… 😀

  10. Das man da noch ruhig bleiben kann … Respekt. Ich glaube (auch wenn ich kein Arzt, sondern Dienstleister einer anderen Branchen bin), ich hätte die Leute stehen gelassen bis die Hose unten ist. Und zusätzlich pro 10 Minuten etwas für die Belegung des Zimmers berechnet …

    1. Tja, das sieht unser Abrechnungssystem leider nicht vor. Da gibt’s die gleiche Kohle, ob der Patient fünf Minuten braucht oder eine Stunde, ob er einmal im Quartal kommt oder zwanzig mal,

  11. Also….. Der Kleine ist 4 und die Eltern kriegen es nicht hin, ihm die Hose auszuziehen…. Klar, der Kleine mag nicht, aber wenn die Eltern das immer so machen, dann… Nunja.
    Dann aber dem Kind so ein Benehmen vorleben und wahrscheinlich auch noch Angst machen, der Kinderarzt könne ihn schlagen….
    Armer Kinderdok!

  12. Wow. Auch wenn ich verstehe dass du es aufgegeben hast Grundsatzdiskussionen zu führen, ich könnte das an deiner Stelle nicht so stehen lassen. Wenn der jetzt rumerzählt, Kiderdoc hätte seinem Kind Schläge angedroht? Offenbar ist es ja genau das, was bei ihm von all dem angekommen ist.

  13. *ohne worte*

    aaaaber: aus eigener erfahrung kann ich nur sagen, dass kinder bei angst eine riiiiiesen kraft entwickeln!

    vor über 30 jahren hatte ich einen kleinen unfall und musste eine tetanusspritze bekommen. allerdings hatte ich eine latzhose an – mit drei personen haben sie es nicht geschafft, mir das teil vom popo zu ziehen. irgendwann hat der doc völlig entnervt einen weg durch die seitliche knopfleiste gebahnt, um mir die spritze zu geben.

    gemerkt hab ich davon nix – war ja mit hosefesthaltezerren beschäftigt 😉

    1. Oh, ja! Für eineTetanusspritze bei mir, mit 5 oder so, brauchte es 6 (sechs!) Erwachsene um mich festzuhalten.
      Aber der Bub beim Doc leidet wohl eher unter aktivitätsarmen Eltern, sowohl Kleidungsentfernungsmässig als auch Umschlägemachmässig.

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