Max am Abend

Ich komme an Max nicht ran.

Er sitzt hier zur J1, wir überstehen die übliche Vorgeplänkelgesprächsrunde, um uns dem Messen, Wiegen und Untersuchen zu widmen. Ich plappere vor mich hin, während der Untersuchung, texte, um die Stille zu überbrücken, wie ich es manchmal bei Säuglingen mache, um sie zu beruhigen. Die Fragen nach seinem Lieblingssport, dem Hockey, verpuffen in der stickigen Luft des Untersuchungszimmers. Frotzeleien, Witzchen und ernsthaftes Nachfragen vergehen zwischen uns. Max ist still, nicht maulfaul wie sonst Pubertierende, die sagen oft genauso wenig, erwarten aber, dass man sie hört. Max sagt nichts, weil ihn etwas bedrückt.

Seine Eltern haben sich vor zwei Jahren getrennt, mehr zerstritten als geeinigt, der Vater ist ausgezogen, die Mutter blieb mit Max daheim. Eine schwierige Zeit, die für den betreuenden Arzt mit Gesprächen über Bauch- und Kopfweh und Schulattesten erfüllt war. Die erwünschte Begleitung durch ProFamilia im Ort und dem Verein Alleinerziehender lehnte Max heroisch ab. Er spielte lieber Hockey.

Max ist fit, er ist gesund, er steht im Saft, mit vierzehn ein Oberkörper wie ein Olympiaschwimmer, aber sein Blick sieht im Moment kein Ziel vor Augen. Denn sein Vater, der ausgezogen war, und zu dem er gerade wieder Kontakt gefunden hatte, ist vor einem halben Jahr mit dem Auto verunglückt. Die Mutter, die zweimal ihren Partner verliert, kann Max in dieser Zeit keine Hilfe sein. Die Großeltern sind alt, die Freunde mit sich selbst beschäftigt, das Hockeyspielen schafft Erfolge für ein Wochenende, es reicht nicht für die Woche.

Ich komme nicht an ihn ran. Ich kreise um *das* Thema, ich biege immer wieder zur Weggabelung ein, bei der er sich öffnen kann oder auch nicht. Ich komme nicht bis dorthin. „Passt schon“, sagt er irgendwann am Ende der Untersuchung. Ich nicke nur.

Nach der Untersuchung, Max ist fertig angezogen, kommt seine Mutter mit dazu. Auch sie hat andere Dinge im Kopf als die Jugenduntersuchung ihres Sohnes, trotzdem flüchten wir uns zu dritt in die Erläuterung des Befundes. Es geht ihm gut, der Sport ist gut, die Schule auch, wir besprechen die fehlende Impfung, wir erledigen das Geschäftliche. Am Ende kommen die ersten Verabschiedungsfloskeln, die den Termin beenden, kleine Pausen, die mit Schlußfragen schließbar wären, dann nur von mir ein „Gibt´s denn noch etwas sonst, irgendetwas zu besprechen?“, das von Max´ Mutter mit einem freundlichen Kopfschütteln verneint wird. Sie stehen beide auf. „Also dann.“

Die Mutter holt ihren Mantel von der Garderobe, geht zur Praxistür und hält sie auf. Max ist ihr gefolgt, dann bleibt er aber stehen, zögert und kommt zu mir zurück.
„Danke, Doktor“, sagt er, „bis bald.“

24 Antworten auf „Max am Abend“

  1. Lieber Kinderdoc,
    hm, ich weiss nicht ob es sich gehört oder ob es unangebracht ist, aber ich denke seit über einem Jahr immer wieder an diese Geschichte hier, rufe sie immer mal wieder auf und schliesse sie dann wieder. Aber mir liegt trotzdem eine Frage auf der Seele …..wie geht es Max heute? :-/

    1. Dem gehts gut, er war zweimal in diesem Jahr da, einmal eine Nachholimpfung, einmal was banales, Erkältung oder so. Er ist so wie bei der J1, still, vertrauensvoll, das passt alles. Mal sehen, was passiert, wenn er mal jemanden zum quaken braucht.

      1. Vielen Dank für die schnelle Antwort 🙂 es erleichtert ungemein zu hören das es bisher positiv weiter ging auch wenn er ein stiller Junge ist 🙂

  2. Das ‚Bis bald‘ lässt hoffen, dass Max eine Vertrauensbasis zu Dir hat – Danke für Dein offenes Ohr.

    MfG: Makarius

  3. Lieber Kinderdok, auch ich war „halbwegs aktiver“ Teil einer Trennung – mit einem Fünfjährigen, allerdings mit „gelebtem“ gemeinsamen Sorgerecht
    .. und das war gut so:
    Heute ist er ein Dreissigjähriger mit einer bescheidenen Karriere .. aber glücklich mit positiver, aber auch kritischer Einstellung zum nicht immer einfachen „Umfeld“.
    Möge Max eine ähnliche Zukunft beschert werden und die Eltern sich im Klaren werden, dass zu einem Kind (auch mit 14) auch eine bescheidene Harmonie zwischen beiden Elternteilen gehört.
    Verletzungen der Seele (der etern) haben im Zusammenhang mit Kindern nichts, aber auch gar nichts zu suchen, dafür gibt’s im Zweifelsfall gute Psychologen.
    Der letzte Satz zeigt einen positiven Aspekt bei dem Jungen.
    Von Herzen alles Gute, Max!
    (und Dank an „unseren“ Kinderdok!)

    1. sorry für die Schreibfehler, aber dieses Thema lässi bei mir immer wieder Emotionen auftauchen und die führen zu sochlchen „Effekten“.

  4. Offtopic:
    Demnächst kommt der Kinderdoc nicht nur nicht an Max ran, sondern auch nicht mehr an Priorix Tetra. Des weiteren geht das RKI davon aus, dass es deshalb auch zu Mangel an Varizellen-Einzelimpfstoffen und MMR-Impfstoffen kommen kann (bzw. wird). Nachzulesen hier http://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/wissenschaft/nachricht-detail-wissenschaft/glaxosmithkline-lieferengpaesse-bei-varizellen-impfstoffen/?tx_ttnews%5BsViewPointer%5D=2&cHash=33f23010be7b8ab41ac44aa84193bb17

    Schöne neue Welt. Im Osten[TM] wurde immer gesagt, im Westen[TM] gäbe es alles. Nicht gesagt wurde, wann und wo und wie oft es alles gibt… 🙁

  5. da kommen einem wirklich die Tränen beim Lesen. Vor allen Dingen wenn man selber ähnliche Erfahrungen gemacht hat, nur war da kein Kinderdok!

  6. Danke sie haben es wieder geschafft, ich hab Tränen in den Augen. Sollte ich irgendwann mal Kinder haben, wünsche ich mir auch so einen Kiinderdok für sie, wie sie es sind.

  7. Ja sowas kenne ich und da bin ich froh Physiotherapeutin zu sein.
    Ich habe eine Patientin (Erwachsene) deren Mutter lag im sterben, (Krebs, langes unschönes Sterben). Ich hatte das große Glück, dass ich sie mir abends 20:30h als letzte Patientin legen konnte. Wir konnten schweigen und mit Massagen die Seele streicheln oder auch reden, aber v.a. ohne Zeitdruck- in dieser Zeit immer deutlich länger als die gepnate halbe Stunde…..

  8. Schwierige Situation für alle Seiten! Aber Du hast getan, was eben ging, und Max scheint Deine Bemühungen wahrgenommen zu haben. Du hast ihm die Hand gereicht, das weiß er, und er wird sie nehmen, da bin ich überzeugt. Ich hoffe, Du verlierst dabei nicht den Mut und die Hoffnung… LG, H.

  9. Vor 22 Jahren war ich das, aber als Mädchen 🙂
    Sie machen das schon richtig, lieber Kinderdok, mehr als drum kreisen kann man oft nicht, aber derjenige merkt, da ist Jemand.
    „Mein“ Dok hat das nicht getan, auch keine Lehrer, keine Bekannten, keine Pfarrerin im Konfirmandenunterricht, niemand hat ein Wort mit mir gewechselt.
    Vielleicht hätte ich sie damals ergriffen, diese Chance, so musste ich eben ein paar schwierige Umwege laufen.
    Leider kommen manche auf diesen Umwegen total vom „Hauptweg“ ab 🙁

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Kinderdok.blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen