Und Sie sind…?

Ich habe ein ganz schlechtes Namensgedächtnis.
Wenn mir am Tag im Supermarkt oder auf der Straße ein Vater, Mutter, ein Kind über den Weg läuft, bei der/m sich meine Synapsen zumindest entfernt erinnern, dass ich ihn, sie oder es kenne (und das ist für mich schon richtig gut!), dann gibt es eine Blockade bei der Frage: Bloß woher? Ist das jemand aus der Praxis? Sind das meine eigenen Patienten? Oder Vertretungen? Kenne ich die vom Elternabend der Tochter? Oder vom Aufräumen nach der letzten Schulveranstaltung?

Mir ist das sehr unangenehm. Kommt es bei der Begegnung zu einem Gespräch (mal kurz über die Straße grüßen ist unverfänglich, und man kommt in keine peinliche Situation), dann merke ich, wie sich kleine Scharniere oder Weichen im Hirn umlegen – ich hoffe zumindest immer darauf -, die dann meinen Erinnerungszug passieren lassen. Das klappt nicht oft. Manchmal kommt das Gespräch sehr schnell an diesen Punkt, mitunter gar nicht. Ich konzentriere mich auf das Bedürfnis zu wissen, woher ich die Person kenne, gleichzeitig versuche ich, dem Gespräch zu folgen oder es geschickt zu lenken, um doch eine Idee zu bekommen, woher wir uns kennen („…wie geht´s den Kindern?“ – „Kinder? Welche Kinder?“ Ups, doch jemand aus dem Kirchenchor…).

Für einen Arzt ist das natürlich keine guter Zustand, aber was soll ich machen? Ich kenne Kollegen, die erinnern jeden Patienten, den sie in ihrer Laufbahn je gesehen haben, einschließlich Eltern, Krankheitsverlauf und Versicherungsstatus. Ein Oberarzt in der Klinik kannte alle Frühgeborene mit all ihren Komplikationen, auch wenn sie zehn Jahre später mit Durchfall aufgenommen wurden („Meyer-Lauritz? Das ist doch das ANS mit CPAP und nachfolgend drittgradiger RPM? Anfang 1999, oder? Und der hat keine Brille?“). Eine andere beherrschte zudem die gesamte Genealogie der Familie und der Angestellten der Klinik, jede Auszubildende wurde mit Namen begrüsst, jeder Patient mit dem Onkel des Vaters in Verbindung gebracht, der „doch vor fünf Jahren auf der Inneren mit einem Ileus lag“. Da bin ich weit von entfernt.

In der Praxis geht das etwas leichter. Ich habe meinen Spickzettel in Form der EDV in jedem Zimmer stehen. Bevor ich die Untersuchung beginne, blättere ich im anderen Zimmer schnell durch die elektronische Patientenakte, sichte die Geschwisterkinder, checke den Impfstatus und dessen Lücken und beeindrucke dann im Zimmer mit unendlichem Elefantengedächtnis („Wie war denn die Hochzeit? Sie wollten doch heiraten?“ – „Das wissen Sie noch, Herr Doktor, das ist doch schon ein halbes Jahr her.“ – Tja…). Seid sicher: Das machen alle Doctores so, außer sie sind von Natur aus gedächtnisbegabt. Ich eben nicht.

Blöd ist nur, wenn jemand mich nicht erkennt. Das stört mein Ego. Letztens hat mich in der Fußgängerzone eine Frau mit Kind nach der Uhrzeit gefragt, und ich habe sie tatsächlich mal erkannt: Wir hatten uns in der Praxis vor zwei Jahren ordentlich die Meinung gesagt (freundlich ausgedrückt), es ging ums Impfen – logisch – , sie verließ damals Zeter und Mordio schreiend die Praxisräume. Seltsam: Diese Leute vergesse ich immer nie.
Jetzt in der Fußgängerzone habe ich sie freundlich angelächelt: „Und sonst bei Ihnen, alles ok? Alle gesund? Wie geht´s den Kindern?“
Sie hat die Stirn gerunzelt: „Und Sie sind…?“

18 Antworten auf „Und Sie sind…?“

  1. Du bist nicht allein – mich grüßen auch ständig wildfremde Leute, die ich – gut erzogen wie ich bin *hüstel* – zurückgrüße. Manchmal sehe ich auch mir gut bekannte Gesichter nicht, die Leute kennen mich aber und hopsen mir vor die Füße, wenn sie gesehen werden wollen, erklärt hab ich es den meisten. Ansonsten höre ich irgendwann „ich hab Dich daundda gesehen, aber Du mich nicht“. Tja, und – die Welt dreht sich immer noch. Auch an meiner Mutter bin ich schon vorbeigerannt, ohne sie zu sehen.
    Der Kinderarzt meiner Kinder hingegen scheint auch so ein Gedächtnisgenie zu sein, auch wenn wir uns inzwischen nur noch selten sehen – mein Teenie ist einfach zu gesund und bei leichten Krankheiten ist keine elterliche Begleitung mehr erforderlich.

  2. Mein Gedächnis ist auch mies, ich lerne immer noch die Namen der Arbeitskolegen, seit 3 Jahren.

    Mich nervt eher wenn ich durch die Stadt geh und gegrüßt oder angehupt werde und niemal die Leute kenn.
    Aber die Ärzt mit fachrichtung + Behandlung kann ich runter beten wo ich schon zu Gast war.

  3. Oh, es ergeht mir nicht alleine so? Ich dachte schon es wäre nicht normal. Ich kann die Leute auch nur in „noch nie gesehen“, „hat Ähnlichkeit mit irgendwen“ und „schon mal gesehen, aber weiß nicht wo und wann“ einteilen.

  4. Auch ich habe ein lausiges Gesichts- und vor allem Namensgedächnis. Wenn ich jemanden inkl. Namen wiedererkenne heisst das entweder etwas ungeöähnlich gutes oder äusserst schlechtes.
    Aber die Diagnosen, langzeit-Verläufe, aktuelle und frühere Hörgerätemodelle und jeweils deren Programmierungen, otoskopische Befunde das kann ich! Damit hätte ich jeder Zeit zu „Wetten dass…“ gehen können.

  5. Lieber Kinderdok,

    Gesichter kann ich – jederzeit – kenne ich –
    aber woher? Kiga , Schule 1 – 3, Fußballverein 1 – 2, Kursteilnehmer (gebe Kurse an der Volkshochschule – da sieht man ja auch den ein oder anderen 😉 ) oder Nachbar? Vielleicht auch aus der Fortbildung, die ich gemacht habe, oder einer unserer Kommunalpolitiker, die in einem der Gremien, denen ich angehöre mal da waren oder ein Vereinsmitglied aus dem Verein, bei dem ich nur sporadisch aktiv bin. Vielleicht auch Kirchenchor oder der Gospelchor, bei dem ich zwei Jahre gesungen habe. Oder –

    Boah – es gibt so viele Kreise (mal an goo.. angelehnt), dass es mir absolut UNMÖGLICH ist, alle unter einen Hut zu kriegen.

    Ich merke ja nicht mal, dass M. aus Vorstand Verein X Mitglied in Chor Y ist.

    Namen sind Schall und Rauch – habe ich gehört. Und wenn das Gesicht vor mir irgendwie bekannt aussieht, versuche ich erst, aus dem Gesagten schlau zu werden und wenn das nicht klappt uuunnnddd wenn der Mensch mir sympatisch erscheint – dann frage ich nach!

    Sonst habe ich irgendeinen dringenden Termin (ich muss die Kinder abholen ist sehr beliebt) und verabschiede mich stante pede.

    In diesem Sinne
    Du bist nicht allein!

  6. Ok, kinderdok, ich kann es dir erklären. Befrag den google mal zum Schlagwort Prosopagnosie, vielleicht verstehst du es dann. Und ein paar Anekdoten aus deiner Familiengeschichte noch dazu, es wird nämlich autosomal dominant vererbt. Etwa 2-5% der Bevölkerung sind betroffen, die meisten wissen es bloß nicht.
    Sagt die Tagelöhnerin, die auch jeden Tag wildfremden Menschen begegnet, die seltsamer Weise ihre gesamte Familie genau kennen. Und deren Mutter neulich ihren Enkelsohn (meinen Sohn!) nicht erkannt hat, weil er gerade vom Friseur kam.

    1. Ja, hier auch. Ich erkenne genau drei Gesichter zuverlässig, mein Mann ist immerhin dabei, außer auf Fotos. Im Job muss ich das gut verbergen. Es klappt so leidlich. Privat gehe ich offen damit um, das hilft.

  7. Super!

    Aber es machen gar nicht alle so. Manche versuchen nicht einmal, ein Elefantengedächtnis vorzutäuschen. Wir waren mal bei einer Kinderärztin, die war da ganz schlimm. Jedes Mal wieder Neuvorstellung, weil sie uns nicht mehr kannte! So ca. alle paar Wochen. Anstrengend…

  8. Ich bin doch leicht erleichtert, dass ich damit nicht alleine bin. Die ärztlichen Kollegen hab ich (für die paar Wochen) meistens drauf, aber schon bei den Schwestern fängts an schwierig zu werden… Und wenn ich ne Woche von ner Station weg bin, ist alles wieder weg. 😛

  9. Ist bei mir ähnlich. Ich kann Inhalte von Besprechungen vor 2 Jahren erinnern, aber wer an einer Besprechung alles teilgenommen hat, habe ich 5 Minuten nachdem ich den Raum verlassen habe wieder vergessen.

  10. bei mir ist es so, dass ich namen supergut im kopf behalten kann, samt allen informationen, die ich über die person mal aufgeschnappt habe. aber gesichter bleiben bei mir gar nicht im gedächtnis. wenn dann noch ’ne neue brille oder ein anderer haarschnitt dazukommen, bleibt nur ein vages gefühl von „irgendwoher kenne ich die person…“

    ich geh mit diesem nicht-wiedererkennen-problem meistens ganz offensiv um. wenn mich jemand anspricht und ich keine ahnung habe, woher ich denjenigen kenne, sage ich das einfach: „hm, helfen sie mir mal kurz auf die sprünge. ich kann gerade nicht so recht einordnen, wo wir uns kennengelernt haben. mein gesichter-gedächtnis ist hundsmiserabel.“ die meisten menschen nehmen mir das nicht übel und sind sehr hilfsbereit „ja, ich bin der xy, wir kennen uns von blabla“. und meistens wird dann auch gleich noch ein freund oder verwandter genannt, der sich auch keine gesichter oder namen oder kalenderdaten merken kann.

    alles halb so wild – man muss nur wissen, wie man damit umgehen kann 😉

  11. Ich hab so ein Elefantengedächtnis und erinner mich an so ziemlich jedes Kind, mit dem ich mal gearbeitet habe. Meistens bin ich es dann, die grüßt und verwirrt angeschaut wird 😀
    Am schönsten ist immer das Erschrecken von Kleinkinder, wenn sie merken, dass die Erzieherin/der Arzt/die Sozialarbeiterin/die Turnlehrerin tatsächlich außerhalb des Arbeitsplatz existiert und so schnöden Dingen wie Einkaufen nachgeht… über die Gesichter könnte ich mich jedes Mal wegschmeißen 😀

  12. Danke! Ich bin doch nicht alleine mit dieser Problematik 😉
    Kurioserweise kann ich mir einen Namen in Verbindung mit der fallgeschichte ganz gut merken, aber wenn der/ die betreffende dann da steht… Öhm, ja, äh, da war was. 😊
    GsD gibts Spickzettel 😋

  13. Meine Oma (auch Kinderärztin) hat da eine ganz tolle Methode gehabt. Uns kam mal auf dem Markt wer entgegen „Guten Tag Frau Doktor…“ und sie hat sich eine halbe Stunde unterhalten. Als ich hinterher fragte wer das sei: „Weiß ich nicht, keine Ahnung.“ Ich hab das so gefeiert.
    Aber diese Gedächtnisgenies habe ich auch eins in der Uni. Ich habe wegen Krankheit meine Mitbewohnerin zu einem Professor geschickt. Seit dem kennt der ihren Namen. Von einmal sehen. Sowas beeindruckt mich immer.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Kinderdok.blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen