Lieber Kollege Hauch …

… vielen Dank für dieses Buch.

Es wäre einfach zu schreiben, Sie haben genau das Buch geschrieben, das wir Kinderärzte im stillen Kämmerlein alle einmal schreiben wollten, aber, beim Heiligen „Laurence-Moon-Bardet-Biedl“: Es ist die Wahrheit.

Sie formulieren exakt die Erfahrungen in der Kinderarztpraxis, die Fallbeispiele, die Vorgänge in den Elternhäusern, den Kindergärten, den Grundschulen, bei Therapeuten, den Zeitgeist. Sie beschreiben, wie unsere Kinder und ihre Eltern ab Geburt unter ständigem Leistungsdruck stehen, wie jeder von ihnen stets nur Erfolge und Funktionieren erwarten und wie alle nur nach den Defiziten stieren. Sie beschreiben die Veränderungen in der Arztpraxis der letzten Jahre, weg von den Kinderkrankheiten, hin zu den sozialpädiatrischen Problemen, wir lesen von den Schwierigkeiten, die gerade Jungen haben, von den Tests, den Beobachtungen, die über die Kinder hineinbrechen, über die Meilensteine der Entwicklung, die eigentlich keine sind und über die Unfähigkeit aller Beteiligten, damit umzugehen.

Die Kapitelüberschriften (eine Auswahl) illustrieren den Rundumschlag Ihres Buches: „Von Masern zu Neuen Morbidiäten/Warum es schwerer geworden ist, Eltern zu sein/Das muss Ihr Kind können – muss es wirklich?/ADHS ist Dimensions- und Definitionssache/Warum es so schwer ist, nein zu Therapien zu sagen“ usw. usf. Ein wenig Redundanz muß bei einer Empörungsschrift, wie Sie sie geschrieben haben, sein, denn man kann es nicht oft wiederholen: Therapien schaden. Sie zitieren Largo, Renz-Polster, Juul und Schlack, alles ehrenwerte Brüder im Geiste, die unsere Kinder so sehen, wie sie sind, nämlich – (CAVE: Banalität!) – Kinder und keine Versuchsobjekte von Erzieherinnen, Therapeuten oder, ja Eltern.

Ich rechne Ihnen hoch an, dass die Eltern so gut wegkommen, da greife ich mir an die eigene Nase, so gut gelingt mir das in meinem Buch und Blog nicht, zu sehr musste ich da ventilieren. Die Eltern können auch gar nicht anders – der Instinkt, die Natürlichkeit und Gelassenheit im Umgang mit den Kindern muß in der heutigen Zeit auf der Strecke bleiben. Zuviel „es muß“, „es soll“, „es wird erwartet“ und „wenn nicht jetzt, dann…“ vernebelt ihnen den Blick auf den spontanen Entwicklungsweg jedes einzelnen Kindes.

„Kinder haben ein Recht darauf, nicht ständig ans Morgen zu denken. Kindheit ist nicht die kurze Zeitspanne, in der der Mensch optimiert werden muss um das Rattenrennen um die besten Jobs und die besten Plätze in der Gesellschaft, Kindheit ist keine Krankheit, sondern Lebenszeit. Die wichtigste!“

Ich werde einen Karton mit fünfzig Exemplaren Ihres Buches ordern, um es jedem Kindergarten der Umgebung zu schenken und jedem mit überflüssigen Anfragen nach Therapien als Antwort zu schicken.

Kindheit ist keine Krankheit: Wie wir unsere Kinder mit Tests und Therapien zu Patienten machen von Michael Hauch, Regine Hauch – FISCHER Taschenbuch ISBN-10: 359603230X

„Lasst die Kinder in Ruhe!“, Michael Hauchs Artikel in der FAZ vom Februar letzten Jahres, der zu diesem Buch führte.

[Dieser Text enthält so genannte Affiliate Links – siehe Impressum]

34 Antworten auf „Lieber Kollege Hauch …“

    1. @ anonym
      Na, ja, machen wir ja auch… Nur davon läuft das Kind keinen Tag eher. Waren ganz artig mit 18 Monaten beim Kinderarzt, weil der Katalog vorsieht, dass ein Kind mit 18 Laufen soll. Der fand alles ok, der Lütte ist schon immer motorisch hinterher. Mit 20 Monaten wren wir nochmal beim SPZ, Wiedervostellung erbeten wenn er 23 Monate ist. Therapie: nix, Kind wird mit knapp 9h täglich in der Krippe (und als einziges krabbel-Kind in der Gruppe) genug gefördert, laut Ärzten. Wir warten weiter ab…

      1. Vielleicht bin ich da ja auch zu entspannt, aber was soll man denn noch alles machen? Ich würde klären lassen, ob organisch alles gesund ist und das wäre es dann auch schon…Je mehr Gewese darum gemacht wird, desto weniger Lust hat der kleine Mann, oder er genießt einfach nur die Aufmerksamkeit, die er dadurch bekommt….
        Ich wünsche euch starke Nerven, dem Umfeld gegenüber:)

  1. Das erinnert mich an das Ergebnis der Testung auf Wahrnehmungsstörung bei der Großen, einer von vielen Terminen weil die Schule Druck machte. Das Kind passt nicht in ihr System. Wie sagte die Ärztin? „Das Kind hat keine Wahrnehmungsstörung, die haben die Lehrer.“ Und auch der von mehreren Lehrern bemerkte Autismus ist von zwei Psychologen nicht gefunden worden, die lachen herzhaft weil das Kind in ihren Augen und nach ihren Testungen alles mögliche, aber nicht autistisch ist.
    Letztlich hat das Kind die Schule nun gewechselt – aber wieviel „ich bin anders“ und „keiner mag mich“ nimmt sie mit?
    Das Schlimme ist, dass man sich als Eltern ja auch verunsichern lässt, sich unter Druck setzen lässt – weil man immer das Beste fürs Kind will und immer nur Bruchstücken sieht. Wir haben eine Weile gebraucht, um die gespaltene Zunge der Klassenleiterin zu erkennen. Danach haben wir Kontra gegeben und konnten wieder gut unserem Bauch trauen.

    1. Ja, so etwas erlebe ich leider oft. Ich stutze immer, wenn die Eltern sagen, „wir erkennen unser Kind ueberhaupt nicht in den Aussagen der Lehrer oder Erzieher wieder.“

      1. Das Nichterkennen des Kindes in der Erzählungen der Lehrer ist das eine. Bei der Großen wussten wir, dass sie nicht ins Schema F passt. Das wusste auch die Schule nach unserem Vorstellungsgespräch und nahm das Kind trotzdem. Aber gerade weil wir das wussten, waren wir letztlich irgendwann zu blind für den Bauch, weil die Lehrerin den passenden Nerv bei uns zum Klingen brachte.
        Bei der Mittleren haben wir das „Nichterkennen“ auch, aber es läuft auf „Ups, da vertauscht einer das Kind auf dem Weg zwischen Zuhause und Schule!“ heraus, weil da die Gewichtung anders ist, weil da wir „Probleme“ sehen, die in der Schule nicht auftauchen.
        Unsere Kinderärztin lässt bei der Großen jetzt einiges, was wir an Sorgen unlängst anbrachten, einfach laufen. Sie hofft, dass sich vieles davon relativiert mit dem Schulwechsel. Vorausgesetzt, wir haben jetzt eine Schule, die nicht mit Schubladen arbeitet.

  2. Oh, da kenne ich auch einen Fall, wo dieses Buch gelesen werden sollte: Superteurer Nobel-Kindergarten mit Krippe. Junge, etwas über ein Jahr, lebhaft, mobil, bewegungsfreudig, untersucht interessiert die Babies und zieht halt auch mal an den Haaren. Und rausgegangen wird auch nicht rausgegangen in den vor den Fenstern liegenden Garten mit der Begründung, in der Eingewöhnungszeit der Kleinen sei das nicht gut.

    „Diagnose“ der Erzieherinnen: „Boah, was für ein gestörter Flegel, völlig ohne Mitgefühl, besorgniserregende Entwicklung, zukünftiger Schwerverbrecher, sollte mindestens in eine HPT….“

    Mutter, schon etwas verunsichert: „Na, aber der Kinderarzt hat nichts ausgewöhnliches feststellen können… “

    Erzieherin: „OOOOh, der Kinderarzt, der sieht das Kind mal für 20 Minuten, wir sehen das viel länger, unserem Urteil ist schon zu trauen.“

    Mutter lässt sich zur entsprechenden Ambulanz für die Diagnose von schweren Entwicklungsstörungen überweisen. Dort ist die eindeutige Diagnose: „Alles bestens, altersgemäß und überhaupt nicht unnormal. Nur etwas mehr Bewegungsdrang als vielleicht „üblich“. Die sollen ihn einfach mehr rausschicken. Die kleineren Krippenkinder werden einfach untersucht, das ist auch normal und für beide nicht schädlich. Zudem kann er noch nicht reden und sich von daher nur durch lauter werden und Rumrennen, Hopsen … äußern, wenn seine Umgebung nicht von alleine checked, dass er gerade Bewegung braucht.“

    1. Erzieherinnen sind sehr wertvoll in der Beobachtung, man muss ihren Eindruck auch ernst nehmen. Die Diagnose stelle ich dann doch lieber selbst.
      Ich sehe das Kind sicher länger als zwanzig Minuten, kenne es und die Familie vielleicht schon seit Geburt und kann gemeinsam mit den Eltern das Verhalten in allen Lebensbereichen interpretieren, nicht nur das im Kindergarten

  3. Moin,
    Ich überlege wirklich, mir das Buch zu kaufen. Vielleicht hilft es uns weiter. Wir haben auch ein „aus-der-Norm“ Kind. Kind ist 22 Monate und läuft nicht, es gibt auch wenig Tendenzen, dass es das in den nächsten Wochen tut. Wenn ich für jede wohlgemeinte Frage von Eltern mit Normkindern „waren sie schon mal zur Physio?“ Einen Euro bekommen würde, wären die ersten Schuhe vom zwerg schon bezahlt…

  4. Nichtsahnend schaue ich in meinen Blog-Feed, scrolle, sehe die Überschrift. „Hauch“? Aber das kann doch nur..? Wirklich..?
    Das muss er doch..?
    Tja, Kollege Hauch ist wohl mein Kinderarzt gewesen und ist mir wohlbekannt 🙂

  5. Und wie geht man damit um, als Mama eines 14 Monate alten Kindes, das so gar keiner Norm entspricht??? Ich war immer Befürworter, dass Kinder sich von selbst entwickeln, wenn man ihnen den Raum dazu gibt und dass es dafür keine Therpien o. ä. braucht. Nun stehen wir selbst in dem Dilemma, zu sehen, dass das Kind in gar keine Tabelle passt und sich nicht „regelgerecht“ entwickelt und das nicht nur in einem Bereich.
    Die Entscheidung, Förderung ja oder nein, hätte ich mir vor meinem Kind niemals so schwer vorgestellt, ich will das Beste für mein Kind und habe schlicht und einfach Angst, dass man gewisse Dinge zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr aufholen kann. Andererseits habe ich nun schon bei der Physiotherapie die Erfahrung gemacht, dass man nicht um jeden Preis therapieren sollte und nicht alles, was vermeintlich „das Beste fürs Kind“ ist, es tatsächlich ist. Die erste Therapeutin, bzw. die Therapieform war eine Katastrophe, 4 Monate durchgezogen, ohne nennenswertes Ergebnis, aber „Sie wollen ja das Beste fürs Kind“, daher Augen zu und durch. Nach dem Wechsel zu einer anderen Therapeutin konnte das Kind innerhalb von 6 Einheiten auf eine Matratze klettern, sitzen und zumindest leidlich krabbeln.

    1. Zum Einen würde ich sagen, wenn das Kind nur in einer Richtung nicht altersgemäß entwickelt ist, sind Zeit und Geduld erstmal die besten Ratgeber. Wenn aber, wie im Falle Deines Kindes, mehr als ein Bereich betroffen ist, sind Therapien vielleicht keine schlechte Idee.
      Zum Anderen bedingen sich Bereiche ja auch gegenseitig. Beispiel: mein Kind ist sehr groß & entsprechend schwer (damit also in beiden Bereichen außerhalb der Normb) und hat erst mit knapp 20 Monaten angefangen frei zu laufen (durchaus noch in der Norm, dennoch tat alle Welt (außer unser KiA) so, als würde das Kind NIIIIIEEEEE jemals laufen lernen). Es ist aber auch einfach schwieriger, eine größere Masse in den aufrechten Gang zu versetzen. Und das Gehirn ist auf Grund des vermehrten Körperwachstums (daher ist das Kind ja sehr groß) auch einfach ständig damit beschäftigt, neu heraus zu finden, wie es den Körper zu koordinieren hat. Da dauert es eben eine ganze Weile, bis alles Nötige für’s Laufen passt. Zusammengefasst: die Normabweichungen bei Größe & Gewicht bedingten die Normabweichung beim Laufenlernen.
      Wenn man also versteht/herausfindet, wo bei Deinem Kind vielleicht Zusammenhänge bestehen, sind vielleicht nicht mehrere Therapien nötig, sondern nur wenige gezielte, die dann auch Auswirkungen auf andere, eigentlich nicht therapierte Bereiche haben.
      Und zu guter Letzt: was sagt denn euer Kinderarzt? (Und, vertraut ihr ihm in seinem Urteil?)

  6. lieber kinderdoc,
    ich durfte all das erleben, das alleine durch den wald stromern dürfen, dämme bauen, ein taschenmesser mit knapp 6 haben dürfen und schnitzen, sicher feuer machen lernen, rumschrauben können (okay, das radio mußte ich wieder zusammenbauen, ich hatte vorher nicht gefragt, hab ich nie wieder gemacht) hat mein adhs nicht weggemacht, es hat es nur erträglicher gemacht, ich hatte nischen wo ich für das geschätzt wurde, was ich bin, diese nischen habe ich bis heute, heute ist aber die realität in der schule eine GANZ andere, wenn ich heute nochmal in die schule müßte, so wie ich damals mit 6 war….ich wäre schneller weggemobbt worden, von einer heutigen regelschule, als ich das wort aussprechen könnte

  7. Lieber Kinderdoc,

    ich wünschte, ich wäre schon vor Jahrzehnten diagnostiziert worden und nicht erst jetzt, mit 40 Jahren. Inzwischen bekomme ich Strattera und ich bemerke eine Verbesserung. Übrigens bin ich ein Kind gewesen, welches sehr streng aufwuchs, mit strengen Regeln und OHNE Fernseher. Ebenso mein ältester Sohn, der 15 Jahre vor mir diagnostiziert wurde.

  8. lieber kinderdoc,
    normalerweise schätze ich deine beiträge sehr, aber schon beim lesen der kapitelüberschrift „ADHS ist Dimensions- und Definitionssache“ verzog sich mein gesicht, als hätte ich in eine zitrone gebissen und ich erwischte mich bei dem wunsch den krause und krause (ADHS im Erwachsenenalter: Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung bei Erwachsenen) auf Hauchs hinterkopf zu plazieren, mehrfach, mit anlauf.

    als jemand der selber adhs mit autistischen zügen ist (beides mit ca 45 adhs bzw 48 autistische züge von fachleuten diagnostiziert) , eine tochter (20) mit ebenfalls adhs ( erst spät mit 14 wegen fehldiagnose vorher, dann doch von fachleuten diagnostiziert) hat (wir sind beide mediziert) und ein forum und eine fb gruppe zum thema ad(h)s und autistmus (für erwachse und eltern) betreibt, hat mich schon der artikel von Hauch letztes jahr aufgeregt.

    kinderdoc, ich bitte dich „Die beste Therapie: ein geregelter Alltag ohne Fernsehen“ ? ich bin 53, als ich kind war, bin ich nur draußen gewesen, es gab 3 programme, und die nicht mal in farbe, und trotzdem haben serien wie Star Trek und Kung Fu mich dazu gebracht, träume zu haben, mich für wissenschaft zu interessieren und für kampfsport, beides lebenslange interessen.

    lieber kinderdoc, ich bitte dich inständig, stell richtig, das es adhs gibt, und das die eltern bei einem ausgeprägtem adhs nichts falsches machen, wenn sie sich auf einen medikationversuch einlassen, ich beobachte in letzter zeit etwas besorgniserregendes, nämlich das eltern aus angst vor negativ-reaktionen bezüglich medikation sich schämen, wenn sie dann doch einen versuch machen (von all dem geschwurbels das zur angeblichen heilung von adhs und autismus von windigen snake oils sellers vertrieben wird, wie das ungemein gefährliche MMS http://www.t-online.de/lifestyle/gesundheit/id_73066976/mms-verboten-wundermittel-gegen-krebs-aids-und-alzheimer-.html ganz zu schweigen

    1. Aber deine Erfahrungen sind doch genau das, was Hauch und vernünftige Kinderaerzte anprangern: gescheite! Diagnostik und sinnvolle! Therapie, kein Ueberdiagnostizieren oder gar Uebertherapieren. Und na klar: Wer ein eindeutiges ADHS hat, wird immer von Medis profitieren, abwarten wäre falsch und auch ein Versuch erlaubt!

  9. Zu den Therapien: ich habe ein halbes Jahr dafür gekämpft, dass meine Tochter, die inzwischen nachweislich keinen Entwicklungsrückstand hatte, nicht zur Frühförderung gezwungen wurde von der sie Schlafstörungen bekam. Die Gabe allerdings von Vitamin B12 wurde uns auch ein halbes Jahr untersagt obwohl Blutwerte den B12-Mangel belegten. Von daher werde ich mir das Buch kaufen. Danke (:

  10. Die Eltern können auch gar nicht anders – der Instinkt, die Natürlichkeit und Gelassenheit im Umgang mit den Kindern muß in der heutigen Zeit auf der Strecke bleiben.

    Erst Recht wenn man seinen Enkel als Pflegekind aufzieht und sich vom Pflegeelternbetreuer Vorwürfe anhören muss weil man mit dem Kind wegen der Schniefnase nicht schon läääääääängst beim Kinderarzt war und die Termine fürs Kinderzentrum,für die Krankengym und für den Ergo auch noch nicht erledigt wurden die sind doch sooooo Wichtig …………..

    1. Und der Kinderarzt schnauzt einen dann an warum man das Kind wegen Schnupfen zum Arzt schleppt und die Pflegelternbetreuer schnauzen einen aus dem gleichen Grund an und sagen sie hätten das nie vorgeschlagen. Jammern als emotionales Ventil.

  11. Leider sind diese halb-diagnostizierenden Erziehungsangestellten genau so gewollt.
    Im Lehramtstudium gibt es fast überall soetwas wie „Diagnostik“. Oder anders gesagt: ein bis zwei 2-stündige, 15-wöchige Veranstaltungen, die es zukünftigen Lehrkräften ermöglichen sollen, Verhaltensauffälligkeiten etc. zu diagnostizieren. Die Idee ist ja ganz nett (und insbesondere in Grundschulen, wo Klassenlehrer noch viel Zeit mit denselben Kindern verbringen theoretisch sinnvoll), aber 30 bis 60 „Weiterbildungsstunden“ sind dafür schlicht zu wenig. Dann vielleicht doch lieber streichen, auch aus den späteren Referendariats- und Schulbewertungsbögen, und es echten Experten überlassen.
    Aber solange Prüflinge durchfallen, die „offensichtliche Entwicklungsstörungen bei Schüler X“ nicht diagnostiziert haben (übrigens erkannt an Hand einer Prüfungsstunde, die der entsprechende Prüfer begleitet hat), solange werden die Erziehungskräfte auch weiter rumdoktoren.

    1. ERgänzung: …und es geht noch viel weiter. Ich habe mich nach 25 Dienstjahren als Lehrerin geweigert, an einer Fortbildung im Zuge der Inklusion teilzunehmen, in der eintägig (!) alles Mögliche über Autismus, Epilepsie, Diabetes Typ 1, ADHS…. vermittelt werden sollte. So etwas erzeugt nur hanebüchenes Halbwissen, veerleitet zum Rumdoktern UND ist nicht mein Job. Klar, ich habe im Laufe der Zeit auch immer wieder hochallergische, diabetische, schilddrüsenerkrankte, herzkranke, epileptische, autistische…. Kinder unterrichtet, mit oder ohne Lernbegleitung, aber ich werde den Teufel tun, selber irgend etwas diagnostizieren oder „behandeln“ zu wollen – das wäre fahrlässig und gefährlich. In allen Fällen habe ich mir genaue Instruktionen von den Eltern geholt, wie mit der Erkrankung umzugehen ist (merke: jedes Kind ist da anders, jede Erkrankung anders, von einem Diabetiker kann man nicht auf einen anderen schließen); manchmal gaben mir die Eltern ein Schreiben des Arztes; ich habe von den jeweiligen Eltern erklärt bekommen, auf welche Symptome ich bei IHREM Kind achten soll; seit Handyzeiten habe ich auch immer die Handynummern dieser Eltern auf meinem Handy. In einem Fall (Epilepsie) hatte ich schlicht die Anweisung, im Falle eines Anfalls NICHT erst die Eltern, sondern sofort den Rettungsdienst anzurufen weil jegliche Laien überfordert wären und jegliche „Behandlung“ nur schaden könne.

  12. Nachtrag: Natürlich gibt es Kinder, die Therapien brauchen und die sollen sie auch bekommen. Wir sind wirklich dankbar für das, was beim Schräglagesyndrom unseres Kindes von der Physiotherapeutin in der ersten Zeit geleistet wurde. Sie wollte aber, wie gesagt, immer weiter machen. Nach der Meinung: Wenn ich weitermache, schadet das Ihrem Kind doch nicht. Und auf diese Weise werden Familien nach der Geburt belagert und es wird auch verhindert, dass eine Kleinfamilie erst einmal zu sich finden kann. Immer stehen irgendwelche „Helfer“ vor der Tür, die das neue System „Kleinfamilie“ mit ihren Übergriffen und Einmischungen auch mächtig destabilisieren können. Langer Rede, kurzer Sinn: Danke für den Buchtipp!!

  13. Ich habe auch so einen vernünftigen Kinderarzt wie Sie. Er hat mir Mut gemacht, als die Therapeuten bei uns nur so Schlange standen, weil ich ein Frühchen (ein paar Wochen zu früh, nichts wirklich ernstes) hatte. Man wollte uns gleich in irgendwelche Programme stecken. Klar, mein Kind brauchte wegen eines Schräglagesyndroms eine gewisse Zeit lang physiotherapeutische Hilfe und dafür will ich überhaupt nicht undankbar sein. Aber man hätte uns am Liebsten gleich bis zum 18. Lebensjahr unseres Kindes in Frühförderprogramme gesteckt und uns mehrmals die Woche Ergotherapeuten nach Hause geschickt. Nicht aus ärztlicher Sicht, die treibenden Kräfte waren die Therapeuten selbst. Mein Mann war skeptisch, sonst hätte ich wahrscheinlich jetzt noch eine Ergotherapeutin zuhause sitzen. Mein Kind ist jetzt ca. 3 Jahre alt. Die Physiotherapeutin wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, aufzuhören, als ihre Arbeit getan war. Als halbwegs intelligente Mutter fühle ich mich in diesem System von Hebammen und Therapeuten überrannt und bevormundet. Auch gefällt es mir nicht, wenn Kindergärtnerinnen bei der kleinsten Verhaltensabweichung eine Ergotherapie vorschlagen. Und ich denke oft: Lasst mein Kind doch einfach Kind sein!! Lasst mich als Mutter in Ruhe. Die U-Untersuchungen zeigen in schöner Regelmäßigkeit, dass dieser Ansatz sehr gut ist. Der Kinderarzt ist immer sehr erfreut. Alles in bester Ordnung.

  14. Ich glaub da kennt jeder so eine Story. Einen Freund von mir haben sie in die Logopädie geschickt – dort hat man dann schnell gesehen dass er da nicht hingehört „Der Junge hat keinen Sprachfehler – der redet bloß bairisch“. Das soll vorkommen wenn man aus Bayern wegzieht.

    Und mich… ja mich haben sie in der Grundschule auch zum Arzt geschickt. Der meinte wenn meine damalige Lehrerin mal zu ihm kommen würde wäre das deutlich sinnvoller als wenn ich käme. Ich bin rückblickend so unendlich froh nie in diese Mühlen geraten zu sein.

  15. Das erinnert mich an folgende Begebenheit: Größtes hatte wegen Dingsda Dingsdatherapie bekommen. Dann, nach der vorletzten Therapiestunde meint die Therapietante zu mir: „Ja,dann kümmern Sie sich jetzt mal am Besten schon um eine neue Verordnung, gelle?“
    Ich (verwirrt): „Aber Sie sagten doch, Sie bekommen Dingsda weg in den X verordneten Sitzungen????“
    Therapuetussi: „Jaaa schon, aber … na ja: So ganz weiß man das schließlich nie. Und seien wir doch mal ehrlich: Schaden kann so eine Dingsdatherapie doch nie, oder?“
    Wir haben seitdem nur noch das Nötigste mit dee geredet und sollte eines unserer anderen Kinder Dingsdatherapie brauchen, schicken wir es woanders hin. Existenzsicherung und -Begründung auf Kosten.unsicherer Eltern und der zahlenden Allgemeinheit, dazu werden WIRKLICH benötigte Therapien in Verruf gebracht (Wem soll man denn jetzt glauben?), es ist manchmal zum k*tzen!

  16. Lieber KinderDoc,

    ich kenne das Buch (noch) nicht, habe es mir aber jetzt in den Amazon-Korb gepackt, so dass es bei der nächsten bestellung mit raus geht. Grundsätzlich bin ich auch dabei, wenn es darum geht, Kinder Kinder sein zu lassen und sie nicht zu „überfördern“ … ihnen den Freiraum zu geben, den sie brauchen.

    Aber etwas zu plakativ und allgemeingültig sind mir Aussagen wie „Therapien schaden“ dann schon. Als Vater eines Extremfrühchens, der bei der Geburt unter der Marke von „1 Liter Milch“ lag, sich dazu eine schwere beidseitige Hirnblutung einfing … kann ich nur sagen: Es gibt Fälle, da MUSS Therapie sein. Leider … leider auch (sehr) viel Therapie! Wenn man aber sieht, welche Fortschritte ein solches Kind „unter Therapie“ macht, dann lohnt sich das alles!

    Insofern – einverstanden mit den Aussagen, was (weitgehend) gesunde Kinder angeht – aber: Nicht einverstanden, was gesundheitlich betroffene Kinder angeht.

    1. Ich denke, es geht hier nicht um die tatsächlich notwendigen Therapien wie bei Frühchen oder nach Unfällen o.ä., sondern darum dass heutzutage jede Nicht-Norm sofort behandelt wird, ohne auf das Individuum zu schauen. Der Kinderdoc hat viele, viele Beispiele in seinem Blog gebracht, wo Kinder zum Logopäden sollten, weil die Kindergärtnerin einen angeblichen Sprachfehler entdeckt hat etc.

      Kinder werden zur Nachhilfe geschickt, damit sie die Gymnasiumempfehlung erhalten, nur um sich dort weiter mit Nachhilfe und ohne echte Freizeit zu quälen. Selbst das kleinste Kind muss Normen erfüllen, spätestens mit 1,5 Jahren laufen und möglichst zusammenhängende Sätze sprechen. Unser Junge bekam im Kindergarten Minuspunkte, weil er zu wenig gemalt hat, sondern stattdessen lieber riesige Gebilde aus Bauklötzen gebaut hat. Ich find das Wahnsinn, wie Kinder heutzutage von klein auf getrimmt werden und wir haben uns dagegen entschieden. Wir vergleichen unsere Kinder nicht, nicht mit anderen, nicht mit Tabellen. So lange sie sich immer weiter entwickeln, sind wir zufrieden 🙂

      1. Ich habe das Buch inzwischen gelesen … und ich stimme dem Kinderdok zu – Danke für dieses Buch!
        Als Vater eines Extremfrühchens, der (leider) viel Therapie braucht, habe ich mich in vielem durch dieses Buch bestärkt gefühlt. Ich wünsche mir, dass viele Eltern dieses Buch lesen – aber noch mehr Kindergärtner(innen), Grundschullehrer(innen) und andere, die meinen, alles müsse und könne (weg)therapiert werden.

        Sensationell fand ich auch die Passagen, wo er darlegte, dass überflüssige Therapien nicht nur nicht helfen, sondern tatsächlich dem Kind und seiner Umgebung massiven Schaden zufügen können.

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