Der Zollstock und Helene Fischer

Aramäer, Türken, Griechen, Kroaten, Serben, Kanadier, US-Amerikaner, Franzosen, Deutsche, Italiener, Spanier, Polen, Tschechen, Norweger, Schweden, Syrer, Briten, Tunesier, Iraner, Iraker, Portugiesen, Kenianer, Kurden, Ghanaer, Japaner, Chinesen, Australier, alle in meiner Praxis.

Alle haben Kinder, die krank sind. Warum sollte mich interessieren, welche Sprache sie sprechen oder ob und an welchen Gott sie glauben? Oder wie sie versichert sind? Oder ob sie politisch verfolgt, nach einem besseren Leben und bessere Versorgung suchen oder schlicht hier arbeiten? Nennt mich sozialromantisch, cheesy, idealistisch oder naiv oder dumm, aber Arzt sein verlangt das. Humanität sowieso.

Aus einem fantastischen Artikel des SPIEGEL (Nr. 18/2016 vom 30.4.2016):
„- Es migrieren wesentlich mehr Europäer innerhalb Europas als Afrikaner nach Europa.
– Es migrieren ungleich mehr Menschen innerhalb des Nahen Ostens als von Nahost nach Europa.
– Die größte transkontinentale Bewegung findet nach wie vor zwischen Süd- und Nordamerika statt. […]
– Der Anteil Europas am gesamten Wanderungsvolumen ist gesunken.
– Was sich im langen Rückblick verändert hat, ist die generelle Hauptrichtung der Migration: Von Nord-Süd zu Süd-Nord und nun immer mehr zu Süd-Süd. In früheren Jahrhunderten waren es die Europäer, die auswanderten und andere Weltgegenden kolonisierten – was auch nur eine Form der Migration ist.
Die globale Migration in den vergangen fünf Jahren [war] rückläufig. Die Zahl der wandernden Migranten zwischen 2010 und 2015 (36,5 Millionen) ist um mehr als 8 Millionen kleiner als in der vorherigen Fünfjahresperiode (45 Millionen).“

Sehr anschaulich wird der Artikel mit dem Zollstockvergleich: „Bitte nehmen Sie einen Zollstock zur Hand. Klappen Sie diesen auf die volle Zwei-Meter-Länge aus. […]“ In den letzten fünf Jahren migrierten weltweit „36,5 Millionen oder 0,5 Prozent der Weltbevölkerung – das ist auf Ihrem Zollstock etwa ein Zentimeter. Alle anderen, also 99,5 Prozent der Weltbevölkerung, sind Nichtmigranten; sie lebten 2015 im gleichen Land wie 2010. Das sind die anderen 199 Zentimeter des Zollstocks.“ Und weiter: In dieser Zahl steckt „… jeder, der jemals aus seinem Geburtsland weggezogen ist und noch am Leben ist […]. Der Mann vom nächsten Kebab-Laden, seit 20 Jahren in Deutschland, steckt da drin. Der indische Professor für Astrophysik, in den Achtzigerjahren nach Göttingen berufen, steckt da drin. Die schwedische Designerin, seit Mitte der Neunziger in Berlin, steckt da drin. Pep Guardiola steckte da drin. Helene Fischer. Die Klitschkos. Charlotte Roche. Der Autor dieser Zeilen, in der Schweiz geboren, steckt ebenfalls drin.“ (= Guido Mingels)

Zum Spaß habe ich mein Statistikprogramm angeworfen: Da das Programm keine Nationalitäten kennt, ist der Asylstatus das einzige, das bei mir einen Migranten ausmacht. Unter den ca. 6000 Patienten des letzten Jahres waren immerhin 10 Kinder aus Familien, die in Deutschland Asyl beantragt haben. Das sind heroische 2 Promille. Natürlich hinkt diese Zahl: Manche Patienten kommen häufiger als einmal pro Jahr.
Und natürlich gibt es Praxen in Großstädten, die mehr Patienten im Asylsuche-Status behandeln. Aber auch „bei uns“ gibt es ein Erstaufnahmelager in der näheren Umgebung und im Ort bereits mehrere, auch Familienunterkünfte für Asylsuchende.

Meine fMFA sprachen letztens von „den vielen Asylanten“, die wir in Deutschland und damit auch in unseren Praxen versorgen müssen. Wir haben die Statistik wie oben bemüht, und waren alle überrascht. Und von meinen fMFA blieb am Ende auch nur eine übrig, die – sagen wir grob – zu den 197 oberen Zentimeter des Zollstocks zählt, die also keinen Migrationshintergrund hat.

Global Migration? Actually, The World Is Staying Home, der Artikel aus dem SPIEGEL ist hier auf englisch zu finden, die deutsche Übersetzung muß gekauft werden.

14 Antworten auf „Der Zollstock und Helene Fischer“

  1. Interessant. Ich gehöre zu dem 1 cm (Deutschland -> Schottland).

    @Matthias
    Haben die ihren Asylstatus angegeben, oder woher weisst Du davon?
    Davon abgesehen werden Frauen auch von deutschen Männern belästigt (oder Männer von deutschen Frauen). Etwa die Hälfte meiner weiblichen Bekannten wurde vergewaltigt, noch keine hat mir gesagt „Gottseidank, es war ein Weißer“.

    Und natürlich machen innereuropäische Migranten auch Probleme. Hast Du die Statistik dafür mal nachgeschlagen?

    @Kinderdoc
    Geniale Darstellungsmethode, vielen Dank.
    Danke auch fürs Gutmenschentum, Linksversifftsein, die Sozialromantik, kriminelle Naivität und den Verrat am Vaterlande, naja, was unsereins eben so alles ist, weil man Menschen unabhängig von ihrer Herkunft betrachtet…. 😉

  2. Und? Spanier und Briten können migrieren wie sie wollen, sie machen keine Probleme. Der Zollstockvergleich hinkt, denn Europa hat einen sehr kleinen Anteil an der Weltbevölkerung und rangiert weit oben in der Liste der bevorzugen Ziele. Und alle schönen Statistiken können nicht beruhigen, dass meine Schwester und ihre Freundinnen heute Nacht von vier Asylforderern in der Berliner S-Bahn belästigt wurden.

  3. Äh, du hast ein PC-Programm dass den Asylstatus anzeigt? Pervers.
    Scheint dich ja doch zu interessieren. 😉

    1. Bei einem Asylbewerber ist in den ersten 15 Monaten die gesetzliche Krankenversicherung nicht zuständig; dieser Personenkreis hat kein „Krankenversicherungskärtchen“. Die Kostenerstattung erfolgt durch den Staat.

      Ich nehme an, dass Kinderdocs Software anzeigen kann, welcher Prozentsatz seiner Patienten durch den Staat bezahlt wird – ebenso wie sie es wahrscheinlich anzeigen kann, welcher Prozentsatz seiner Patienten bei der AOK, bei der TK oder einer anderen Krankenkasse versichert sind. Daran ist doch nichts „pervers“.

  4. Ich weiß natürlich nicht, wie das in einzelnen Statistiken gehandhabt wird, aber nach offizieller Westdeutscher Lesart waren DDR-Bürger schlicht Deutsche. Wer „rübergemacht“ hat musste in der BRD kein Asyl beantragen, sondern hat offiziell einfach seinen Wohnort gewechselt und bekam ohne Wenn und Aber einen Pass.

    1. Man musste nicht mal „rübermachen“. Jeder Bürger der DDR konnte in der BRD einen westdeutschen Reisepass beantragen, wenn er beispielsweise auf Besuch im Westen war. In den Augen der BRD existierte die DDR gar nicht, sondern war nur ein sowjetisch besetztes Gebiet (Stichworte: Alleinvertretungsanspruch und Hallstein-Doktrin).

  5. Wie sieht das mit ehemaligen DDRlingen aus? Zählen wir auch noch zu den Migranten (wenn man es hypergenau nimmt sind wir ja vom Staat DDR in den Staat BRD migriert, wodurch Staat DDR aufgelöst wurde)? Und wie sieht das mit Ex-DDRlern aus, die nun in den alten Bundesländern leben?

    Nimmt man es hypergenau, bin ich auch ein Migrant. Immerhin noch vor dem Mauerfall geboren (okay… so ziemlich gerade noch so, die Wiedervereinigung habe ich nicht bewusst mitbekommen, da einfach zu jung) und nun in NRW lebend. Nimmt man es nicht allzu genau (DDR = BRD = Deutschland), dann nicht mehr. Allerdings sollte man dann auch die ehemaligen deutschen Gebiete dazuzählen, weil das war ja auch mal D-Land und nur weil es heute Österreich oder Polen ist… 😀

    Und jetzt mal ernsthaft:
    Ich sehe das auch recht liberal. Ich bin nur dafür, dass WIR uns nicht den Asylanten oder Migranten anpassen, sondern die sich uns. Es gilt deutsches Recht, wo Frauen z.B. keine Kopftücher tragen müssen (aber können), wo Religionsfreiheit herrscht (auch Atheist oder Islam) und die Rechtssprechung sich nun mal an den Grundgesetz orientiert. Genauso, dass Verstöße gegen das Gesetz geahntet werden und notfalls mit Ablehnung des Asylantrags enden. Aber eben auch, dass Menschen, die wirklich Probleme haben, auch geholfen wird.
    Aktuell haben wir ja das Problem, dass man zwei Fraktionen hat: die Rechten, die sie alle loswerden wollen und die Linken, die eieieiei die Armen machen. Und steht man in der Mitte, wird man von den Linken als Nazi und von den Rechten als Gutmensch „beschimpft“. :/

  6. In einem Forum bei einer Tauschbörse konnte man nachlesen das es doch alles nur junge Männer sind die Deutschland aufsuchen um eine dumme Deutsche zu finden die sie heiraten können um hierzubleiben,dann werden die unzähligen anderen Familienmitglieder nachgeholt um den Sozialstaat zu schröpfen,oder die bekommen mehr als jeder ALG II Empfänger und drängeln sich trotzdem bei den Tafeln vor,wer dagegen aufbegehrt wird bedroht und geschlagen etc.pp..Ich fand das so widerlich das ich mich dort wieder abgemeldet habe.zudem wurde ich von den Betreibern der Seite auch noch fürs Forum zeitweise gesperrt weil ich gegen diesen Mist aufbegehrte in dem ich die Schreiber/innen nahelegte zu dem Forum der NPD zu wechseln.Was viele vergessen bzw. nicht wissen ist das der Bereich der den Staat der BRD und des ehem. Deutschen Reichs ausmacht schon immer ein Einwanderungs und Durchwanderungsgebiet war.Die Römer,die Völker aus den Steppen des späteren Russlands während der Völkerwanderung,später die Söldner mit ihren Familienangehörigen zu Zeiten des 30 Jährigen Krieges,die Napoleonische Ära ,dann im Kaiserreich die Polnischen Arbeitskräfte die ins Rheinland eingewandert sind.Der bzw.die Deutsche ist daher ein hübscher genetischer Mischmasch da fallen ein paar Orientalen oder Afrikaner im Genpool auch nicht mehr auf.

    Carl Zuckmayer: „Des Teufels General“ (1954)
    Harras: Schrecklich. Diese alten verpanschten rheinischen Familien! … (lacht vor sich hin) Stell’n Se sich doch bloß mal ihre womögliche Ahnenreihe vor: da war ein römischer Feldherr, schwarzer Kerl, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Dann kam ’n jüdischer Gewürzhändler in die Familie. Das war ’n ernster Mensch. Der ’s schon vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Dann kam ’n griechischer Arzt dazu, ’n keltischer Legionär, ’n Graubündner Landskecht, ein schwedischer Reiter…und ein französischer Schauspieler. Ein…böhmischer Musikant. Und das alles hat am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen, gesungen und…Kinder jezeugt. Hm? Und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg, und der … Matthias Grünewald. Und so weiter, und so weiter. … Das war’n die besten, mein Lieber. Vom Rhein sein, das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. D a s is Rasse. Sei’n Sie stolz drauf, Leutnant Hartmann, und hängen Sie die Papiere Ihrer Großmutter auf den Abtritt!

  7. Oh so ein Zufall. Das Thema hatten wir letzte Woche an der Uni (Sozialwissenschaft für Lehrämter). Und es hat wirklich alle überrascht, dass die Migration doch so klein ist. Vor allem wenn man bedenkt, was man im Moment alles liest und hört. Innerhalb der Industrieländer wird viel mehr umgezogen (zB von England in die USA, von Frankreich nach Deutschland, von Schweden nach Spanien) als von den sogenannten dritte Welt Ländern in die Industrieländer. Selbst die Asyl- bzw Flüchtlingszahlen sind kleiner im Vergleich dazu.

    Der Zollstock ist wirklich ein guter Vergleich. Den sollte ich mir merken und im Praktikum anwenden.

  8. Super Artikel!
    generell vergisst man schnell wie leicht subjektives Empfinden und Statistik auseinander liegen können … das fängt schon bei „immer an der langsameren Kasse stehen“ an 😀

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