Bad Orb ist Zukunft, maybe

Achja, beschauliches Bad Orb, was hast Du mir gefehlt. Ich fahre seit Jahren sporadisch und dann wieder regelmäßig hier vorbei, um mein bescheidenes pädiatrisches Wissen auf Vordermann zu bringen. Ich habe hier meine ersten Seminare vor der Niederlassung besucht, meine ersten Kontakte in die Berufspolitik geknüpft, sogar ein paar Kapitel aus dem Buch geschrieben, damals.
Der Ort selbst verändert sich nicht, sobald Du die Autobahn verlässt, bist Du im kleinen Tal des Spessarts verzaubert, weit weg von der Zivilisation.

Die City bietet wechselnde Geschäfte, heuer immer mehr geschlossene wegen Geschäftsaufgabe, ein Aufbäumen des Ortes gab es vor Jahren beim Bau des Thermalbades. Dem Flaggschiffhotel am Kurpark, indem auch unser Kongress stattfindet, sieht man nun auch seine Achtziger Jahre an, nur das Gradierwerk, das Gradierwerk, ja, das bleibt bestehen, mit seiner frischen Feuchtigkeit. Gerade recht für meine herbsterkältungsgeplagten Schleimhäute.

Was sich ändert, ist die Besuchsdisziplin der Kollegen: Ich erinnere eine Zeit vor fünfzehn Jahren, da war das Auditorium in der Konzerthalle bis auf den letzten Platz gefüllt, wer zu spät kam, der musste stehen. Das wurde zuletzt deutlich weniger, schon seit Jahren hängen sie die Halle zur Hälfte ab, wie bei Konzerten von Rockstars, die in die Jahre gekommen sind – das erhält die Akustik und frustriert die Vortragenden weniger, da sich die Zuschauer nicht auf zuviele Stühle verteilen.

Heute morgen habe ich knapp achtzig Kinder- und Jugendärzte gezählt, die sich die Vorträge angetan haben. Das ist schwach. Es scheint, als haben wir es nicht mehr nötig, unsere Medizin zu updaten. Von vielen wird der Ort verantwortlich gemacht, Bad Orb ist eben nicht Berlin oder München (als werden ähnliche Kongresse in größeren Städten besser besucht).

Oder liegt es am Thema? Prävention ist Zukunft, so prangt es von der Leinwand herab, und alle haben etwas dazu zu sagen: Prävention bei Kindesmisshandlung, durch Impfungen, in der Früherkennung, der Adipositas, bei Allergien, im Öffentlichen Gesundheitsdienst, in den Schulen und Kindergärten, in der Praxis und bei Flüchtlingen. Die Grundaussagen sind immer gleich: Man muß, man kann präventiv arbeiten, aber erreichen tut man immer nur die Gleichen: Die, welche kaum Prävention brauchen. Also bleibt das Thema (zumindest nach dem ersten Tag) seltsam saft- und kraftlos. Mal sehen, was morgen kommt.

Was habe ich heute gehört?
– Prävention kann zu noch verunsicherteren Eltern führen, als wir jetzt schon haben.
– Kindesmisshandlung und deren Folgen kostet die deutsche Gesellschaft jährlich 11,1 Mrd. Euro (d.i. 134,54€ für jeden Bundesbürger) – Habetha et al 2012.
– In Holland wird bei Erwachsenen, die wegen psychischen Problemen ins Krankenhaus kommen, automatisch die Elternschaft erfragt und dies ans Jugendamt gemeldet.
– 87% der Franzosen haben ihrem Kind schon mal einen Klaps auf den Po gegeben (12% „Tracht Prügel“), 68% der Deutschen (9%), aber nur 17% der Schweden (2%) – Bussman et al. 2008.
– Die neue Kinderrichtlinie lässt sich tatsächlich Zeit, wie ich das schon schrub – Einstellung der Krankenkassen: Es wurde ja so einiges gestrichen, und Neues kam dazu, also gibts das gleiche Geld für die Ärzte.
– Vielleicht hätte ich doch den Vertreter der B*rmer GEK fragen sollen, wie es sich verträgt, dass die Kasse die „Sprechende Medizin“ fördern will und „wissenschaftlich und evidenzbasiert“ arbeiten will und dann ein bundesweites Homöopathieprogramm anbietet. Aber dann hätte mich noch jemand als kinderdok geoutet.

Wenigstens kommt heute abend Fussball im Fernsehen.

Bad Orb 2010 1 und 2
Bad Orb 2012 1 und 2

4 Antworten auf „Bad Orb ist Zukunft, maybe“

  1. Vielen Dank für die tolle (und nicht selbsverständliche) Zusammenfassung der (aus Ihrer Sicht) wichtigsten Inhalte. @ sinkendes Interesse Ihrer Kollegen: Wie bewerten Sie denn die Relevanz der Vorträge für Ihre tägliche Arbeit? Hilft Ihnen der Kongress up-to-date zu bleiben oder braucht es Kongresse nicht, da die Leitlinien (die ja von Zeit zu Zeit aktualisiert werden und sich an der Studienlage orientieren) außreichend sind? Was ist Ihre Motivation immer wieder an diesem (oder anderen) Kongressen teilnzunehmen und wurden Ihre Erwartungen erfüllt?

    1. Als ich noch bei denen war hat sich das Bodenpersonal nicht auf Diskussionen eingelassen, nachdem „Homöopathie hilft doch!“ kurz und bündig auseinander genommen habe.

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