Wie sich mal ein Kind selbst heilte.

Es brüllt schon seit einiger Zeit im Hintergrund der Praxis, hebt sich ab von den ansonsten bekannten Geräuschen: Lachende Kinder, rufende Mütter, Türengehen, Telefonklingeln, klappernde Impftabletts, termingebende Arzthelferinnen. Er ist sehr laut, der kleine Kerl, von der Tür zur Anmeldung, kurz leiser werdend auf dem Weg ins Wartezimmer, dann wieder lauter, bis die fMFA ihn zügig ins Untersuchungszimmer setzen. „Plötzliches Bauchweh“ steht auf dem EDV-Planer.

Als ich ins Zimmer komme, bietet sich mir ein trostloses Bild: Ein knapp Dreijähriger auf dem Arm seines riesigen Papas, der, sicher zwei Meter groß, die kleine Mutter umringt die beiden. Der Junge klemmt sich beide Hände wimmernd in den Schritt, hochroter Kopf, sehr traurig, sehr traurig, die Wangen von Tränen glänzend.

Der Vater erzählt mir etwas von ganz plötzlichen Unterleibsschmerzen, seitdem sie vom Spazierengehen nach Hause gekommen sind, völlig unklar, warum, der Kleine jammerte und halte sich den Bauch. Die ganze Zeit, ohne Pause. Große Sorgen um Blinddarmentzündungen und sonstige Üblichkeiten. Der Stuhlgang, ja, der sei normal, auch regelmäßig, und nein, aufs Klo gehe er noch nicht alleine. Erbrechen, nein, und auch kein Fieber. Der Junge schluchzt und holt erneut Luft, um sein Leid in den Hemdkragen des Vaters zu weinen.

„Dann schaue ich mal“, sage ich und zeige auf die Liege. Der Vater legt den Jungen ganz vorsichtig ab, der sich brettsteif macht, aus Sorge, eine Veränderung der Lage – gestreckte Beine, die Hände dazwischen geklemmt – könne alles nur noch schlimmer machen. Aber er lässt es über sich ergehen. Seine Augen mustern mich argwöhnisch, was ich jetzt wohl tue, dann hoffnungsvoll, er kennt mich als seinen Doktor. Ich setze mich neben ihn und murmele irgendwelche aufmunternden und gleichzeitig beruhigende Formeln. Dabei beuge ich ganz leicht seine Beine – Bauchuntersuchungen mit verkrampft gestreckten Beinen sind praktisch unmöglich – und schiebe dabei etwas seine glühenden Hände beiseite.

Er trägt noch eine Windel, darüber eine dunkelblaue Jogginghose mit „Cars“-Motiv. Murmelnd hebe ich sein Sweatshirt hoch, lege die Hand auf seinen Bauch, der ist angespannt, „akut“, massiere tastend über den Colonrahmen Richtung Blasengegend, sein Blick wird ruhiger, ein schniefender Seufzer schaut mir beim Untersuchen zu. Gerade will ich die Windel aufmachen, um mir das Genitale, die Leisten anzuschauen, als ich spüre, wie das Plastikgewebe dicker, fülliger und langsam wärmer wird. Ich warte, ich schaue in sein Gesicht, seine Augen werden groß, seine Gesichtszüge glatter, das Rotgeweinte wechselnd zusehends in ein normales Rosa.

Der junge Mann beginnt zu lächeln. Die Windel füllt sich bis zur Oberkante, sie kann die Mengen an Urin nicht halten, die Papierunterlage bekommt eine ordentliche Menge ab. „Alles wieder gut?“, frage ich. Er nickt. „Wie jetzt?“, fragt der Vater, während die Mutter ihrem Sohn mit dem Ärmel das Gesicht abwischt. „Alles gut“, sage ich und zeige auf den glücklichen Jungen. „Ein Wunder“, bemerkt der Vater. Ich nicke.

14 Antworten auf „Wie sich mal ein Kind selbst heilte.“

  1. Was ich (neben dem Font) eher problematisch finde, ist, daß die Navi bei Mouse-over in Tarnmosus geht (also weiß wie der Hintergrund wird ; )
    Zum Glück gibt’s Feedreader, der Kinderdok muß also nüschts ändern ;p

  2. Die neue Schriftart ist wirklich problematisch, sorry. Serifenschrift ist Standard bei Druckerzeugnissen, an Bildschirmen sollte serifenlose Schrift genutzt werden. Lernen Mediengestalter im 1. Lehrjahr, Ärzte natürlich nicht, daher der Hinweis 🙂

  3. Schön, dass sich manchmal die Probleme so unproblematisch lösen (lassen), und so eine „spontane Selbstheilung“ ist sicher auch für die Eltern ein erstaunliches Erlebnis, was als amüsante Anekdote den Bubi wohl mindestens bis zum Schulabschluss verfolgen wird…

    Als Vater eines Kindeleins, welches mit 2 3/4 fast an einem Blinddarmdurchbruch zur anderen Seite wechselte, kann ich aber die Sorgen der Eltern gut nachvollziehen. Zum Schluss hat mein Kindelein damals nicht mal mehr wirklich gewimmert – die Apathie war nur noch von ab und an leisen Schluchzen unterbrochen… [Wer jetzt meint, ich sei Rabenvater: ´s lokale Krankenhaus war sich Freitags abends bei der Diagnostik auch nicht wirklich sicher. Es erfolgte eine Verlegung ins Landeskrankenhaus mit Kinderchirurgie gegen 19.00Uhr, die rettende OP wurde zwischen ca. 23.00 und 01.00Uhr mal „dazwischengeschoben“.] Unspezifische Bauchschmerzen hats Kindelein 10 Jahre später immer noch regelmäßig – sei´s psychologisch bedingt, sei´s wegen Verwachsungen und daraus resultierenden Problemen.

    1. Ich würde ja sagen, das erinnert mich an meinen traumatischen Blinddarmdurchbruch, aber für echte Erinnerungen war ich wohl – wie dein Kind – noch zu jung. Traumatisch war’s trotzdem & die Narbe spüre ich auch 30 Jahre später noch.
      Jetzt als Elter wäre ich in der vom Kinderdok beschriebenen Lage wahrscheinlich ähnlich panisch.

  4. unsere Lösung war: unter die Dusche oder in die Wanne: das pinkelten die Jungs immer von ganz von selber wenn es dringend wurde …..

  5. Wenn unser großes Kind über Bauchschmerzen klagte, hab ich immer zuerst gefragt, ob er nicht mal aufs Klo wolle, könnte ja sein, dass da ein Pups quer liegt. Bisher kam das Kind jedes Mal mit diesem erleichterten Blick wieder 🙂

  6. Ui… Ist das jungstypisch? O.o
    Mein Sohn brachte das auch, als wir windelfrei übten. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund wollte er nicht aufs Töpfchen, weder seins noch das von seiner Schwester und nicht aufs Klo. Ich merkte aber, dass er wirklich dringend musste, er heulte nur noch und wellerte sich auf dem Fußboden und zuppelte rum, aber es führte kein Weg zum Topf und einpullern war wohl auch keine Option… Ich hab ihm dann ne Windel dran gemacht und 5 min später war das dingens übervoll, aber Kind glücklich. Komisch. Bei den Mädels war das bisher noch nie…🙊

    Ist doch aber gut, wenn sich die Probleme so in Luft respektive Pipi 😂 auflösen 😎

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