Die Zähne und die Küsschen

Jumping in Puddles

Sie haben ihren drei Mädchen und zwei Jungs lustige Namen gegeben, jede/r drei davon. Immer beim Aufruf der Karteikarte frage ich mich, ob sie das gemacht haben, damit sich die Kids später einen der drei als Lieblingsnamen aussuchen können. Es gibt viel Ypsilons in den Namen, viele anglophile Anleihen und ein oder zwei französische (für die Mädchen).

An den Zähnen kannst Du einiges erkennen. Nur die Mädchen, ganz Klischee, haben noch keine überkronten Milchzähne. Der älteste Sohn hatte bereits zwei Zahn-OPs hinter sich, jetzt in der Grundschulzeit wurden diese in die Ferien verlegt, damit er nicht soviel vom Unterricht verpasst. Da fehlt er nämlich oft genug, weil er die ganzen banalen Infekte mitfährt, die ihm die jüngeren Geschwister aus dem Kindergarten anschleppen. Auf wundersame Weise war er in seiner Kleinkindzeit kaum krank, jedenfalls habe ich ihn da kaum gesehen, vielleicht war die Familie aber vorher bei einem anderen Kollegen.

Das erste Mal sah ich sie vor vier Jahren. Da gab es nur vier von ihnen, Nummer fünf ist erst vor zwei Jahren zur Welt gekommen. Die vier saßen wie die Hühner auf der Stange auf der Untersuchungsliege, null Angst vor dem Doktor, sehr lieb und freundlich alle vier machten sie einer nach dem anderen den Schnabel auf, um den Rachen zu inspizieren (diese Zähne!) und ließen sich brav abhören. Immer hatten sie alle das Gleiche, mal fing der Kleinste an, mal ein mittlerer, selten eben der Große. Und Mutter saß stets daneben, genauso verrotzt.

Mama ist immer krank und ist gar nicht übergewichtig, wie es das Klischee verlangt. Blaß ist sie, dunkle Augenringe, sehr dünn. Der bescheidene pädiatrische Blick sieht eine erwachsene Anorektikerin vor sich, aber immerhin fünf Kinder bekommen. Die Pfunde trägt der Vater in der Familie, sicher drei Zentner, verteilt auf knappe zwei Meter. Er erzählt stets von sich, wie krank er sei, was er alles arbeiten müsse, dass er demnächst viel Geld erben werde. Dann wird alles anders.

Der Kontakt mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst begann nach der Geburt des letzten Kindes, die amtliche Mitarbeiterin meldete sich über e-mail, eine Schweigepflichtsentbindung sandte sie gleich mit. Die jüngeren seien seltener in den Kindergarten gekommen, der älteste habe so einige Fehltage in der Schule. Zuhause sehe es aus wie „d´Sau“, sagt die amtliche Mitarbeiterin, und Nachbarn sei der Krach aufgefallen im Haus. Kinderkrach. Nein, die Eltern habe man nicht gehört. Vielleicht noch den Hund, aber was kann man da schon machen? Hunde bellen nun einmal.

Die Anfragen sind immer die gleichen: Kommen die Eltern mit den Kindern regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen? Sind alle Impfungen erfolgt? Ob ich Vernachlässigungsspuren sehen würde? Oder gar Misshandlungszeichen? Seien die Kinder schlecht genährt? Wie sind die Zähne?

Ich denke an meine Impfgegnereltern, die eigentlich gar nicht mehr in meine Praxis kommen, deren Kinder aber weiter nicht geimpft sind. Ich denke an meine schlechtdeutschsprachigen Miteltern, die nicht verstehen, dass eine Vorsorgeuntersuchung nur in bestimmten Zeiten stattfinden darf und danach eben nicht mehr. Die Zähne mancher Kinder sind kaputt, weil Süßgetränke und Flasche und Schnuller, und Zähneputzen ist so nervenaufreibend, weil „er mag das nicht“. Und ich denke, dass ich weiß, dass das Zusammenkommen vieler Indizien und Aufpoppen einzelner hellhörig werden lässt.

Bei dieser Familie? Ja: Die Zähne. Und die Vorsorgen werden gerne mal „vergessen“. Und bei No. 2 fehlen noch alle Impfungen jenseits des ersten Geburtstags, dafür sind No. 4 und 5 wieder komplett durchgeimpft. Außerdem kommen sie, wenn die Kinder krank sind, auch wenn ich dann mehr über Beruf und Krankheiten des Vaters („ich habe da diese Beule am Ellenbogen, könnten Sie mal kurz?“ – „Äh, nein.“) erfahre als über die Schulperformance des Ältesten. Die amtliche Mitarbeiterin möchte, dass der Große jetzt jedesmal vorgestellt wird, wenn er wegen Krankheit nicht in die Schule kann, „um das im Blick zu behalten“. Ich denke mir, damit werde ich als Arzt zum Amt und der Große nicht schneller gesund. Und Verantwortung zeigen die Eltern auch so genug.

Die fünf lachen jedes Mal, wenn sie bei mir sitzen, wie die Hühner auf der Stange. Auch wenn das Lachen zahnlückig ist. Die Großen helfen den Kleinen beim Anziehen. Jedes Mal. Und jedes Mal gibt es am Ende ein Küsschen von der Mama oder ein liebes Wort vom Papa. Wie toll sie bei mir mitgemacht haben und wie lieb sie waren. Für jeden der fünf.

 

(c) Bild bei flickr/Jimee, Jackie, Tom & Asha: Jumping in Puddles (CC Lizenz BY-SA 2.0)

20 Antworten auf „Die Zähne und die Küsschen“

  1. Mir schießen die Tränen in die Augen. Ich bin sehr gerührt von dieser Geschichte und noch mehr von deiner aufmerksamen Empathie und einfach nur begeistert, dass du die Öffentlichkeit an dieser Menschlichkeit teilhaben lässt. Das ist ein Geschenk. Danke dafür.

  2. Mir scheint, das die Eltern weniger mit der Erziehung an sich überfordert sind, sondern eher mit dem organisatorischen Drumherum. Sie schicken kranke Kinder nicht in Schule und Kindergarten, das ist doch richtig so. Klar, wenn so ein Grundschüler laufend fehlt, das ist nicht so toll. Wenn planbare Sachen in die Ferien gelegt werden, denkt doch da jemand mit?
    Bei fünf Kindern (wie Hühner auf der Stange) wird’s halt manchmal lauter. Es wird auch wieder leise. Sie benehmen sich doch in der Praxis sehr umgänglich, irgendwo muss doch ein Kind auch mal ausflippen dürfen. Wo sonst, wenn nicht zu Hause.

  3. Das ist ein sehr schöner Text. Die Welt ist eben nicht nur schwarz oder weiß. Jeder sollte sich immer wieder mal Gedanken über die eigenen Vorurteile machen. Und perfekt ist wohl keiner.

  4. Das ist in der Kinderpsychiatrie mein täglich Brot. Und auch da geht einem zum Glück (neben vielen traurigen Geschichten) immer mal wieder das Herz auf. Danke für diesen schönen Text.

    1. Siehe oben. Es gibt nicht nur schwarz und weiß. Man muss immer die individuelle Situation sehen und nicht alles was möglich ist ist auch optimal für Jeden.

  5. Sehr schöne und wahre Geschichte. Erlebe ich so jeden Tag in meiner Basisklasse irgendwo in Deutschland. Dazu kommt in diesen Fällen oft noch eine Traumatisierung. Zu Fuß von Syrien nach Deutschland dauerte zum Teil 3 Jahre. Diese Familien bräuchten viel mehr Unterstützung. Bei aller Liebe zum meinem Beruf: Integration kann Schule nicht alleine schaffen. Und ehrenamtliche Helfer sind rar. Also: wenn ihr Zeit und Liebe übrig habt- gebt sie in diese Familien.

    1. Nimm mal die rosa Brille ab, DAS ist nochmal was ganz anderes.Es muss zunächst geklärt werden, bei wem jahrelange Mühe und Kosten lohnen und wer aufgrund von Regeln und Gesetzen leider nicht hier bleiben kann und dann auch zügig zurücksollte. Dass was die Regierung nicht hinbekommt können nicht Lehrer und Ehrenamtliche ausbügeln.

      1. Und die Familien können was für die Politik? Für mich ist das eine Frage der Menschlichkeit. Ich kann ja schlecht mir zugeteilte Kinder in der Klasse mit unklaren Aufenthaltsstatus anders unterrichten, als die mit gesichertem Aufenthaltsstatus. Muss mir abends auch noch in den Spiegel schauen können. Unabhängig von einer rosanen Brille. Es fehlt natürlich an Geld, Personal ( zusätzliche Lehrer, Kulturmittler, Dolmetscher,…) und anderem. Das ist aber etwas anderes als eine Zwei Klassen Schule. Und es gibt viele schlaue Flüchtlingskinder. Schulerfolg ist jedoch nicht nur von kognitiven Leitungen abhängig, sondern auch von sozialen und kulturellen Aspekten. Und an dieser Stelle können viele kleine Taten durchaus helfen.

        1. Das ist eine gute Einstellung. Nur unterstützt du so falsche Politik noch mehr und so werden „die da oben“ immer weiter machen, weil es gibt ja genügend Lehrer/Ärzte/Ehrenamtliche die das unterstützen. Notversorgung ja, aber Fehlanreize und langfristige Maßnahmen sind sicher nicht optimal, wenn keine Chance auf längeren Aufenthalt besteht. Und das das ist überall auf der Welt so, z.B. in den USA wirst du gar nicht vom Flughafen runter gelassen, wenn dein Aufenthaltsstatus in irgendeiner Form unklar ist.

        2. Falsche Politik gibt es bei Menschlichkeit nicht. Die junge Mama handelt und Politiker haben das allenfalls zu würdigen, sie wurden entsprechend gewählt.

          Vielleicht vor aller „aber in XYZ-Land erschießt man auch Menschen“-Hysterie nicht vergessen, wie es am Wahlabend tatsächlich mit den Zahlen aussah.

        3. Menschliches Verhalten zeigt sich auch in der Not- und Akutversorgung. Behandlung chronischer Krankheiten, lange Therapien, Beschulung oder Arbeit lohnen sich wirklich erst wenn sie nicht nach ein paar Wochen wieder abgebrochen werden müssen, wenn der Lehrer nicht eine immer neue Klassenzusammensetzung hat, den Lehrstoff neu sortieren muss, die Krankenkasse eine gerade begonnene Rehabehandlung bezahlt hat, die der Patient nicht zuende bringt. Das ist wenig sinnvoll und zwar überall und bei Jedem.

  6. Schöner Artikel, hat mich sehr berührt! Perfekte Zähne und gute Kleider können niemals über nicht bekomme Küsschen und liebe Worte hinwegtrösten, sieht aber erstmal besser aus…

  7. Schön, dass du so aufmerksam und sensibel bist. Geurteilt ist eben schnell auch wenn man die Situation (Krankheit, Leben mit Behinderung) nicht beurteilen kann. Da sind viele ganz fix mit Ratschlägen die dann alles besser machen sollen. Und du würdest eher noch das Vertrauen riskieren.

  8. Ich kann mir nicht helfen, aber da kommen mir fast die Tränen. Hatte als Kind mal eine Freundin, die aus dieser Familie hätte stammen können. Als Kind merkt man das alles nicht so, aber von meinen Eltern habe ich später erfahren, dass diese Familie als „die Asozialen“ galten. 4 Kinder, wenig Geld, Eltern mit sich und dem Leben überfordert, auch intellektuell.
    Trotzdem war ich gerne da. Es waren immer alle nett, es wurde viel gelacht und die Geschwister haben sich gegenseitig immer beschützt. Das fand ich toll als Kind.
    Später trennten sich die Wege, schon durch unterschiedliche Schulen und irgendwann riss der Kontakt.
    Manchmal frage ich mich wie es der Familie ergangen wäre, wenn die Nachbarn 10% der Zeit, die sie mit lästern zugebracht hatten, stattdessen mal genutzt hätten um mal was Sinnvolles zu tun. Bei den Hausaufgaben helfen. Oder mal zum Kochen einladen damit die Eltern lernen, dass es auch gesundes Essen gibt das man günstig zubereiten kann.
    In diesen Familien gibt es oft so viel Liebe und so wenig Erfolg. Woanders glänzt die Fassade, aber es herrscht Kälte und Distanz.

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