Dezembergedanken

Ich bin seit sechzehn Jahren in meiner eigenen Praxis als Kinder- und Jugendarzt tätig, das Zählwerk meines PC-Medizin-Praxis-Programms zeigt über 27000 Patienten an, die sich einmal oder meist mehrmals in dieser Zeit in meiner Praxis vorgestellt haben.

Ich war vorher acht Jahre in einer großen Kinderklinik tätig, habe die letzten 1,5 Jahre nonstop auf der Intensivstation gearbeitet mit teils täglichen Kreißsaaleinsätzen, Mini-Frühgeborenen von 600 Gramm aufwärts und mehreren Reanimationen.

Ich habe sicher ein paar Kinder gesünder gemacht, Eltern beraten und Familien durch Impfungen geschützt. Bestimmt habe ich auch Fehler gemacht und wünschte, dass sie nie geschehen sind, und dass niemand bisher durch mich zu ernsthaftem Schaden gekommen ist. Primum non nocere.

Ich bleibe unsicher. Ich habe morgens weiter Bauchweh. Ich leide, wenn ich kassenärztlichen Notdienst habe. Ich bin verunsichert, wenn ich mich entscheide, das Blut zu untersuchen, weil vielleicht mein eigenes Urteilsvermögen hinkt. Und schwitze, wenn ich die Werte in Augenschein nehme.

Ich vertraue meinem Sachverstand. Ich schwöre auf mein Bauchgefühl. Aber ich misstraue dem Teufel namens Versäumnis, der bitch namens Verpassen und der Stolperfalle namens Übersehen. Die Eltern kommen zu mir, weil sie meinen Fähigkeiten vertrauen. Und wenn ich nun aber einen Fehler mache?

Dann bin ich Mensch.

Ist das so einfach in unserem Beruf? Ist es nicht.

(c) Bild bei pixabay/stockSnap (unter CC0 Lizenz)

15 Antworten auf „Dezembergedanken“

  1. Danke für diesen Text, lieber Kinderdoc. Ich stehe noch relativ am Anfang meines ärztlichen Berufslebens und bin erleichtert, dass auch „alte Hasen“ noch Unsicherheit kennen.

  2. Lieber Kinderdok,

    Der Post ist ja schon ein bisschen her, aber du bekommst sicher noch eine Benachrichtigung über meinen Kommentar.
    Vielen Dank fürs Teilen deiner Dezembergedanken. Ich bin erst ein paar Jahre im Beruf (psychotherapeutisch tätig – übrigens auch viel mit Jugendlichen) und stelle mir ganz ähnliche Fragen. Es ist schön zu lesen, dass es auch „richtig Erfahrenen“ immer noch so geht.
    Und vielleicht macht uns GENAU DAS zu gutem Fachpersonal. Wir hinterfragen unsere Entscheidungen, halten uns nicht für unfehlbar, rechnen mit dem Versäumnis und dem Irrtum und können ihm vielleicht deswegen oft ein Schnippchen schlagen… Und ja, manchmal vielleicht auch nicht und dann sind wir Menschen. Und nein, einfach ist es nicht.

    Alles Gute fürs neue Jahr!
    Jeca

  3. Lieber Kinderdoc,
    Am Ende meines kinderklinikärztlichen Beruflebens kann ich Ihre Gefühle nur bestätigen.
    Egal, wie lange man Verantwortung trägt, dieses Hin- und Hergerissensein zwischen Kompetenz und Zweifel bleibt bis zum Schluss. Das mehr oder weniger grosse Quäntchen Unsicherheit hält einen nach einem Anruf um 01:00 Uhr durchaus auch länger mal wach und stimuliert zu manchen längeren nächtlichen Literaturrecherchen. Wir als „Erfahrene“ stehen am Ende der Kette (als Assistent hat man ja immer noch den OA im Hintergrund) und müssen das aushalten können. Natürlich gibt es Situationen in denen man auch nach bestem Wissen und Gewissen danebenliegt. Solange man sich dessen bewusst ist und sich nicht zu schade ist seine eigenen Grenzen zu erkennen und rechtzeitig andere Kollegen zu Rate zu ziehen halten sich die negativen Konsequnzen meist Gott sei Dank in Grenzen. Oberstes Gebot bleibt, wie Sie richtig bemerkten, das „nil nocere“. Gerade jetzt in der (hoffentlich bei Vielen) flacher werdenden Hierarchie der Kliniken besteht die große Chance vertrauensvoll ZUSAMMEN Verantwortung zu tragen. Anonyme CIRS Meldungen sind hier erst der Anfang.
    Es gibt noch vieles zu Ihren Gedanken zu sagen. Ich habe Hochachtung davor, dass Sie Ihre Empfindungen in aller Öffentlichkeit darstellen. Machen Sie zum Wohl der uns anvertrauten Kinder so weiter!

  4. Bitte bewahren Sie sich ihr Selbstvertrauen, ihr Bauchgefühl, ihr MENSCHSEIN,
    Ihre gesunde Portion Unsicherheit – und Ihre Art, dieses Auszudrücken. Ich bin seit 25 Jahren MfA im Bereich Pädiatrie und habe schon viel Anderes erlebt…

  5. Deine Gedanken zeigen:
    Du möchtest keine Fehler machen.
    Du möchtest nichts versäumen.
    Du untersuchst das Blut, weil…bist Dir zwar sicher, aber vielleicht ja doch?
    All das zeigt, das Du Alles, was Du in Deinem Beruf unternimmst, mit vollem Einsatz durchführst.
    Mehr kann kein Patient vom Arzt erwarten. Mehr musst Du auch von Dir selbst nicht erwarten.
    Fehler? Ja, vielleicht lassen die sich nicht gänzlich vermeiden. Entscheidend ist doch, das vermeidbare Fehler ausgeschlossen werden. Das einem der gleiche Fehler nicht wieder passiert. Das man draus lernt.
    Im medizinischen Bereich haben Fehler einfach mal fatalere Konsequenzen, was einen Großteil der Unsicherheit erklärt.

    Mache ich einen Fehler, dann sind ein paar Tausend Euro am A….. Doch das ist nur Geld.

    Danke für Deine Gedanken, und dafür, das Du sie mit uns teilst.

  6. Ehrliche Worte Herr Kollege. Menschen machen Fehler, das ist ganz normal. Sich dessen bewusst zu sein und gegen zu steuern, Fehler zu vermeiden und mit denen die passiert sind professionell umzugehen ist ein Weg. Zusätzlich helfen Standards, Checklisten und Leitlinien um nichts zu vergessen. Denn der Faktor Mensch ist immer ein unsicherheitsfaktor. Da sind wir heute schon viel weiter als vor Jahrzehnten, unseren Patienten zuliebe.

    1. Frag ihn doch. Anderswo erwartet man auch standards und Qualität z. B. Beim Autofahren. Warum also nicht bei so etwas wichtigem.

    1. Ich würde es gerne anders ausdrücken: Auch Ärzte müssen keine Götter sein.
      Danke für die Gedanken. Und für Ihre tagtägliche Arbeit!

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