Die Scheine

Ich selbst war bewusst das erste Mal beim Arzt in den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Doch, ich bin schon etwas älter. Vermutlich musste ich zum Zahnarzt, denn richtig krank war ich eigentlich nie. Vielleicht ist man damals auch nicht sofort zum Arzt gegangen, so wie heute. Meine Eltern waren sehr entspannt. Beim Zahnarzt war ich aber häufiger.

Jedenfalls: Als Patient durfte man früher ™ immer einen Krankenschein abgeben. Das kennt man heute gar nicht mehr, vielleicht noch in Arztkreisen, in denen man von „Scheinen pro Quartal“ spricht. Wir hatten ein kleines Heft von der DAK zuhause, da gab es für jedes Quartal einen Schein, den man mit dem Namen ausfüllen musste, der wurde in der Praxis abgegeben. Auf der Rückseite gab es eine kleine Tabelle, da konnte die Arztpraxis dann die erbrachten Leistungen abrechnen.  Es gab einen Extra-Schein für den Zahnarzt, auf der Rückseite mit einem grossen Gebiss-Explosionsbild, jeder Zahn schön sorgfältig aufgemalt, dort hatte die Zahnarztpraxis die behandelten Zähne markiert. Bei mir waren das einige.

Wenn das Heft leer war, das kam selten vor, konnte man nicht mehr zum Arzt gehen, behaupteten immer meine Eltern. Keine Ahnung, ob das stimmte, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.

Später gab es dann die Krankenversichertenkarte, die kennen alle. Ist eine andere Geschichte.

Als ich das erste Mal in einer Praxis eines niedergelassenen Arztes famuliert habe (natürlich beim Kinderarzt, hallo, Herr Kollege H.!), hatte ich das Glück, am Ende des Quartals bei der „Abrechnung“ mitzuwirken. Alle gesammelten Scheine des Quartals wurden eingesammelt und die dazugehörigen Karteikarten herausgesucht, der Arzt und eine Arzthelferinnen (so hießen die da noch) notierten auf besagter Scheinrückseite die abgerechneten Leistungen in Ziffern nach dem EBM (Erweiterter Berechnungsmaßstab, den gibts immer noch, nur die Ziffern haben sich geändert). Das war ein riesiger Aufwand, viele Praxen hatten für zwei Tage geschlossen, um die Abrechnung zu dokumentieren. Das ganze wurde gebündelt (nennt man heute auch noch geklammert, wenn bestimmte Patienten nicht anrechenbar sind) und an die Kassenärztliche Vereinigung geschickt. Die armen MitarbeiterInnen dort, die dann diese ganzen Scheine wieder entziffern und in das Arzthonorar umrechnen mussten.

Im Krankenhaus hatte ich mit diesem ganzen Zeugs nichts zu tun, klar. Ich durfte brav meiner Arbeit nachgehen. Abgerechnet hat irgendein ominöser Verwaltungsangestellter in der Verwaltungsetage hinter seinem Verwaltungsschreibtisch. Das einzig Digitale in meiner Krankenhauszeit war der Piepser (ein Gerät, das Dir anzeigte, welches Telefon Dich gerade anpiepst. Du musstest Dir ein Telefon suchen oder die Nummer anrufen. Meist ging’s um paragelaufene Infusionen oder Notfallkaiserschnitte mit Pädiaterbegleitung). Die Briefe wurden noch diktiert und vom Schreibzimmer geschrieben, immerhin schon am Computer.

Papierlose Praxis

Ich übernahm vor nicht ganz zwanzig Jahre eine Praxis. Dabei „kauft“ man die Karteikarten der Patienten, die zuvor in dieser Praxis betreut wurden. Bei mir waren das weit über 3000 Karteikarten in zwei riesigen Hängeschränken. Mir war klar: So gehts nicht weiter. Als Generation „Grün“, die ich nach meiner Sozialisierung der Achtziger und Neunziger Jahre nun einmal war, wollte ich eine papierlose Praxis. Also: Computer anschaffen und einen leistungsfähigen Scanner. Ab sofort würden die Patienten nur noch in der EDV festgehalten werden. Alle Briefe wurden abgescannt und als PDF abgelegt. Papierscheine wie oben gab es nicht mehr, alles wurde per Versichertenkarte im PC erfasst. Welch eine Erholung!

Fünf Jahre später verabschiedeten sich meine fMFA auch von ihrem papiernen Terminplaner, in dem kiloweise Graphit und Radiergummireste versenkt wurden, auch dies lief nun über die Computer. Eine Umstellung und Überzeugungsarbeit, aber alle waren glücklich.

Natürlich war jetzt die Abrechnung einfacher. Manchmal fluche ich noch, wenn die Praxissoftware ein neues Update braucht, denn bei zwölf Arbeitsplätzen an einem Server gibt es hin und wieder ein paar Probleme, aber wer kennt das nicht bei Updates? Die Abrechnung selbst dauert ungefähr fünfzehn Minuten, einschließlich eventueller Korrekturen, weil ich irgendwelche Ziffern falsch abgerechnet habe. Damals bei den Papierscheinen fiel das gar nicht auf, sie wurden einfach gestrichen und nicht bezahlt. Ich gehe online, logge mich über einen gesicherten VPN-Tunnel bei der KV ein, lade die mehrfach verschlüsselte Datei meiner Abrechnung hoch – fertig. Warum ich trotzdem erst nach sechs Monaten erfahre, wieviel ich wirklich ausgezahlt von meinen abgerechneten Leistungen bekomme, hat etwas mit den Vergütungsmodalitäten eines Kassenarztes zu tun. Ist eine andere Geschichte.

Meine Praxis-EDV

Meine PCs und mein Praxisprogramm können Statistiken zu allem, können Zeiterfassung, können Medikamentenverordnungslisten, können via Telefonleitung erkennen, wer anruft und theoretisch bereits die Karteikarte des Patienten öffnen (haben wir abgeschaltet, hat nie wirklich funktioniert), helfen mir beim Ausfüllen von Rezepten und Heilmittelverordnungen und mahnen mich, wenn sich bestimmte Medis nicht vertragen oder eine bestimmte Krankenkasse gerne ein Rabattmedikament haben möchte. Das Programm könnte mir sagen, welches Kind wann eine Vorsorge oder eine Impfung braucht, es könnte einen Recall an die Familie initiieren. 

Ich kann Bilder abspeichern oder auf vorgefertigten Körperschauen Verletzungen oder Erkrankungen eintragen. Es hat ein Medizinisches Lexikon und einen Medikamententhesaurus. Das Programm kann mir mit Textbausteinen einen Arztbrief generieren und dazu den passenden Briefumschlag ausdrucken. Wäre die andere Arztpraxis mit dem gleichen Programm ausgestattet, könnte ich sogar per VPN einen verschlüsselten Brief schicken. Kugelschreiber gehen bei uns trotzdem verloren. Die Papierakten meines Vorgängers durfte ich nach zehn Jahren vernichten.

Risiken ja, naja

Trotzdem bekommen wir immer noch Briefe per Post, per Fax oder handschriftliche Berichte von KollegInnen und AmbulanzInnen. Diese werden weiterhin gescannt. Noch immer gehen Briefe verloren oder werden einem falschen Kind zugeordnet, oder es fand irgendwann irgendwo eine Untersuchung statt, von denen die Eltern nichts mehr wussten, oder die sie wegen Sprachhürden nicht reproduzieren können. Ich hätte kein Problem damit, wenn auf der Versichertenkarte der Patienten diese Daten alle gespeichert und abrufbar wären. Solange der Patient entscheiden darf, was dort gespeichert wird und was der „auslesende“ Arzt lesen darf. Die Technik kann das heutzutage.

Natürlich gibt es immer Risiken, natürlich gibt es immer Schlupflöcher und Missbrauch. Bei der Einführung der EDV-lesbaren Versichertenkarte gab es genauso einen Aufschrei, wie bei der heute eingeführten Anbindung an die Telematik-Infrastruktur (durch die ein direkter Abgleich bei der Krankenkasse möglich ist, ob ein Patient wirklich dort versichert ist). Es ist gut, wenn es Bedenken gibt und wenn diese Lücken aufgedeckt werden, dann kann man sie beheben.

Praxis-App

Für PatientInnen von Kinder- und JugendärztInnen gibt es schon länger eine App für Pushmeldungen, die PraxisApp „Mein Kinder- und Jugendarzt“ (übrigens auch für andere Fachrichtungen, aber die Kinderärzte haben die meisten Kontakte). Die Familien melden ihre Kinder und ihren Arzt an, und ich kann dann an diese Familien Mitteilungen verschicken: Mein Urlaub, die neuesten Impfempfehlungen, den Termin unserer nächsten Erste-Hilfe-Fortbildung. Das ist wirklich cool.

Wir werden noch viel erleben. Ich hoffe, dass wir bald elektronische Rezepte haben werden (schon jetzt freuen sich Apotheken, dass sie nicht mehr unsere Schriften lesen müssen). Wir kommunizieren immer öfter per E-Mail mit unseren Familien, sehen uns Bilder von Ausschlägen an oder geben schriftliche Ratschläge, wenn es mal nicht so dringend ist. Der nächste Schritt wird eine mögliche Videosprechstunde sein, die Telemedizin ist inzwischen vom Ärztetag und den KVen als erlaubter Kontakt genehmigt worden. Auch dies ist in der Praxis-App bereits integriert.

Ich kenne Praxen, die noch mit Karteikarten aus Papier arbeiten und nur einen PC besitzen, über den sie ihre Abrechnung verschicken (die KVen erlauben keine analoge Abrechnung mehr). What a waste of time and quality!

(c) Bild bei kinderdok – erstellt mit Canva

7 Antworten auf „“

  1. Wie machte man das Heft mit den Scheinen leer? Es gab ja für jedes Quartal einen Schein. Wenn man innerhalb des Quartals dann zu einem anderen Arzt wollte oder musste, brauchte man vom Arzt, den man den Schein gegeben hat, eine Überweisung. So hab ich das noch in der Erinnerung.

  2. ja, klingt gut.
    Wenn ich daran denke, dass mein Hausarzt vor 2 Jahren noch Disketten im Einsatz hatte … aber auf der anderen Seite: den Laden kannst du nur mechanisch mit’m Stemmeisen an der Tür hacken, nicht bequem von zu Hause über Schwachstellen in der Telefonanlage und ähnlichem.

    1. Zu den Krankenscheinheften:
      Anfangs schrieb man noch seinen Namen ,später schickte die Krankenkasse zu den Heften die passenden Aufkleber mit und bei meiner ersten eigenen Krankenversicherung gab es das Heft schon mit gedruckten Namen man musste das Blatt nur noch unterschreiben.
      Lang,lang ists her…………..

      1. Ist das wirklich eine Frage von digital vs analog, nicht vielleicht von gut vs schlecht organisiert? Unser analog arbeitender Kinderarzt hat nach einem Blick auf seine übersichtlich geführte Karteikarte die Krankengeschichte der letzten 1,5 Jahrzehnte parat. Meine digital arbeitende Hausärztin guckt jedes Mal verzweifelt in die Software, findet dann erleichtert den letzten Besuch, weiß aber nichts aus den Vorjahren; da rücke ich nur mit Notizzettel mit allen Vorbefunden an, damit es nicht zu Fehleinschätzungen kommt.

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