Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde (Buchrezension)

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Bruce D. Perry

Dass ein Buch tatsächlich Ansichten oder gar die Weltsicht (ein wenig übertrieben) verändert, kommt eher selten vor, aber da ich nun einmal Kinder- und Jugendarzt bin, ist mein Alltag viel geprägt davon, wie Kinder wirken, was sie tun, und warum sie es tun. Daher kann ich über das vorliegende Buch sagen: Es hat mein Leben verändert. Wir sprechen über „Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde“, erschienen bereits 2008 im Kösel Verlag.

Bruce D. Perry ist Kinder- und Jugendpsychiater in den USA, gilt als Experte für traumatisierte Kinder und Jugendliche und wurde/wird regelmäßig als Spezialist hinzugezogen, wenn Kinder in größerem Maße einem psychischen Trauma unterliegen (so geschehen in Waco/Texas, bei den Satanisten-Skandalen), aber auch bei Einzelfällen wie Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellem Missbrauch. Für die Zukunft können wir sicher eine Abhandlung über den Einfluss der Corona-Epidemie auf die Psyche der Kinder erwarten.

Perry ist ein Mediziner der alten Schule, er berichtet von seiner Ausbildung, die amerikanisch-typisch sehr mentorenbezogen war, was ihn positiv wie negativ prägte, da er in seiner Arbeit mit traumatisierten Kindern zunächst viele Vorurteile und tradierte Einstellungen überwinden musste. So wurde noch bis in die Achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts postuliert, Kinder „kämen über alles hinweg“ oder man müsse ein Trauma nur „ausreichend rekapitulieren“, dann sei es reversibel überwindbar. Perry hat sich mit seiner „ChildTrauma Academy“ verdient gemacht, indem er „Innovationen in der Behandlung, Forschung und Aufklärung in Bezug auf Kindesmisshandlung und Kindheitstraumata“ (Klappentext) einsetzte. Seine Co-Autorin Maia Szalavitz hat mit Perry zusammen bereits Fachbücher geschrieben und ist Wissenschaftsjournalistin aus New York.

Anhand verschiedener Traumaerlebnisse und Fallbeschreibungen (Seine erste Patientin Tina, die missbraucht wurde; Sandy, die den Mord an ihrer Mutter miterleben musste; Kinderopfer von Satanisten und Religionseiferer; Die Hinterbliebenen der Waco-Katastrophe; Vernachlässigung durch Pflegeeltern; Connor, der in einem Käfig eingesperrt lebte; Sexuelle Missbrauchsopfer; Kinder, die in Kinderheimen grosswerden müssen usw.) bringt Perry uns ganz nebenbei die Entwicklung des kindlichen Gehirns und der Psyche näher, was Traumata in dieser Entwicklung bewirken und wie eine mögliche Therapie aussehen kann.

Natürlich ist Bruce Perry ein Star auf seinem Gebiet – er lässt uns daran auch nicht zweifeln, mitunter hat man den Eindruck, dass nur er die Wahrheit der Psychotherapie entdeckt hat – , aber seine eigentliche Botschaft ist, dass die Behandlung mit Kindern Zeit erfordert und Geduld, ein gutes Netzwerk und so manche Co-Therapeuten, ob das nun liebevoll kompensierende Pflegeeltern sind oder auch Geschwister, ja, Klassenkameraden. Ein ganzes Kapitel widmet er daher der Bedeutung einer ganzen Schulklasse für die „Heilung“ eines traumatisierten Kindes. Das fand ich sehr beeindruckend.

Ich habe ungefähr zwei Wochen in diesem Buch gelesen (ich bin aber ein Vielbuchparallelleser) und stand seit dieser Zeit bei meiner Arbeit in der Kinder- und Jugendarztpraxis unter diesem Einfluss. Das meinte ich mit „Veränderung der Weltsicht“: Ich wurde durch die Lektüre sensibilisierter für die Schwingungen zwischen Kindern und Eltern, zwischen den kleinen Patienten und mir, ich nahm Dinge wahr, für die ich vielleicht in der letzten Zeit keine Antennen mehr hatte, vielleicht habe ich sie auch nur wieder neu entdeckt, denn als Kinder- und Jugendarzt entwickelst Du automatisch ein Gespür für die Stimmungen der Kinder. Ich wurde mir meiner Spiegelneurone wieder gewahr, die Bruce Perry gerne erwähnt, dass zwei Menschen binnen Sekunden das Verhalten des Gegenüber spiegeln, sogar im Verhalten kopieren. Bin ich gut drauf, ist das Kind gut gelaunt, schlechte Stimmung schafft schlechte Athmosphäre.

Ich mache mir wieder mehr Gedanken über das, was meinen Beruf im Inneren motiviert: Nicht nur Scharlach und Dellwarzen zu erkennen, sondern interaktiv mit den Eltern beisammenstehen und ihre grossen oder kleinen Probleme zu erörtern. Zu erkennen, dass die Pandemie für viele Familien eine Traumatisierung darstellt, aber auch die Resilienz wahrzunehmen, die in einer fest verfugten und schwingenden Eltern-Kind-Beziehung zu finden ist. Vielleicht erhalte ich mir dank der Lektüre dieses Buches auch das Gespür für Somatisierungen, weil Kinder leiden, weil sie gemobbt werden, weil sie körperlicher, verbaler, seelischer Gewalt ausgesetzt sind. Naturgemäß sehe ich momentan überall das Böse.

Trotzdem sind wir Kinder- und JugendärztInnen genau in dieser Position: Ebenso wie ErzieherInnen sehen wir von außen in Familien hinein, haben aber nur einen indirekten Blick auf die Oberfläche oder auf einzelne Auswüchse eines möglichen intrafamiliären Traumas. Die Dunkelziffer von Misshandlungen ist über Jahre geschätzt hoch, die bekannten Fälle unverändert hoch. Es passieren Dinge in Familien, schon oft habe ich mir gesagt, wir müssten eigentlich viel mehr „sehen“. Bruce Perry hat mich gelehrt, aufmerksam zu sein, aber auch der Stärke des einzelnen Kindes zu vertrauen und der Kraft, die in jeder Beziehung lebt.

Cheesy, but true: „Je mehr gesunde Beziehungen ein Kind hat, desto wahrscheinlicher wird es sich von einem Trauma erholen und aufblühen. Beziehungen sind der Weg zu Veränderung, und die mächtigste Therapie ist die menschliche Liebe.“

Bruce D. PerryMaia Szalavitz

Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde – Was traumatisierte Kinder uns über Leid, Liebe und Heilung lehren können – Aus der Praxis eines Kinderpsychiaters

Aus dem Amerikanischen von Judith Jahn, Originaltitel: The Boy who was raised as a dog, Originalverlag: Basic BooksHardcover mit Schutzumschlag, 336 Seiten, 14,5 x 21,5 cm, 10. Aufl. 2021, ISBN: 978-3-466-30768-5

Link zum Köselverlag, Link zu Amazon (Affiliate link)

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3 Antworten auf „Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde (Buchrezension)“

  1. Ja ein Klassiker der Traumapädagogik.
    Nachdem ich viele Jahre mit traumatisierten Kindern gearbeitet habe, bin ich nebenbei sehr froh erstmal eine Pause zu haben.
    Derjenige der nicht ständig damit zu tun hat stellt sich traumatisierte Kinder meistens schüchtern, gebückt, still vor.
    Meistens sind diese Kinder aber halt genau das Klischee eines anstrengenden, sehr unangenehmen Kindes das es einem sehr schwer macht, es gern zu haben.
    Sie sind halt überlebende, die nicht an ihrem Schicksal zerbrochen sind, sondern gekämpft haben. Ist wohl die beste Strategie die der Körper dafür gefunden hat.

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