Winterhoff erlebt sein Waterloo

Dr. Michael Winterhoff

Triggerwarnung: Kinder- und Jugendpsyche, Erziehung, Sexueller Mißbrauch


In der ARD gibt es eine neue Dokumentation über Dr. Michael Winterhoff, den Bonner Kinder- und Jugendpsychiater, der vor Jahren bekannt wurde mit dem Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. In den folgenden Büchern variierte er seine Hauptthese immer wieder, ohne unbedingt die Prämisse zu ändern, viel mehr geriet sein Argumentieren in immer globalere Fahrwasser: Aus den tyrannischen Kindern werden unfähige Gesellschaftsmenschen, die keine Produktivität in den Arbeitsalltag tragen, schließlich „verdummt“ das gesamte Bildungssystem.

Die Doku nimmt nun das „System Winterhoff“ vollends auseinander. Man konnte zu seinen Thesen stehen, wie man wollte, hier kommen die Schattenseiten hervor: Winterhoff wird zum Populisten, der Geld mit seinen Einsichten verdient, er wird zum „Guru“, zum Sektierer. Die Filmemacher lassen verschiedene ehemalige PatientInnen und deren Eltern zu Wort kommen, es werden falsche Diagnosen gestellt (jeder Patient wird zum Narzissten, jede Eltern-Kind-Beziehung als pathologisch abgewertet), diese sogar der Krankenkasse gegenüber falsch benannt.

Eltern werden überredet, ihre Kinder mit Dipiperon (einem sedierenden Neuroleptikum) ruhigzustellen, auch in von Winterhoff betreuten Heimen wird dies Medikament eingesetzt. Kinder- und Jugendpsychiatrische KollegInnen kommen zu Wort und verurteilen Winterhoffs Diagnosestellungen und Therapieansätze aufs Schärfste.

Aber es kommt noch dicker, die ultimative Verurteilung als Kinderschänder. Zwei inzwischen erwachsene Männer schildern, wie sie als Kinder oder Jugendliche alleine mit Winterhoff waren, und dieser ihr Genitale befummelt habe. Die Sozialen Medien laufen Amok.

Als ich vor Jahren das erste Buch von Winterhoff gelesen habe, empfand ich seine Thesen als durchaus interessant und einleuchtend. Die antiautoritäre Erziehung der Siebziger und Achtziger des vergangenen Jahrhunderts hatte versagt, die Helikoptereltern waren geboren, Winterhoff sah in seiner Praxis Eltern, die ihre Kinder zu Partnern machten, zu Freunden, zu Ebenbürtigen. Sie suchten nach Einverständnis mit ihren Kindern, nach Harmonie durch stetes Erlauben, in Winterhoffs Sicht produzierten die Eltern aber dadurch „Tyrannen“, die aus ihrem Kleinkindverhalten nicht herauswuchsen, sondern fortgesetzt impulsgesteuert den eigenen Kopf durchsetzten. Er nennt das „Symbiose“ zwischen Eltern und Kindern, in der keine Seite Fortschritte macht, weil konfliktscheu keine Entwicklung, geschweige denn Reifung des Kindes stattfinden darf. Naja.

In der „heutigen“ bindungsorientierten, ja bedürfnisorientierten Erziehung sind wir da glücklicherweise ein Stück weiter. Winterhoffs erste Ideen waren vielleicht gar nicht die schlechtesten, seine Analysen natürlich kinder- und jugendpsychiatrisch geprägt, weniger pädagogisch. Beziehungen, nein Bindungen wurden als pathologisch diffamiert, die Variationen der späteren Bücher wurden diffuser und immer weniger nachvollziehbar. Aber: Es sind ihm viele viele gefolgt, seine Bücher fanden reißenden Absatz, seine Vorträge waren überfüllt. Jetzt wussten es mit einem Male alle besser. Auch hier ein: Naja.

Nun also das Waterloo für einen „gut vernetzten“ (d.h. renommierten), populären (d.h. Bestseller schreibenden) und, das muss man zugeben, geschickt manövrierenden und messerscharf analysierenden Kinder- und Jugendpsychiater. Aber es ist immer so: Entsteht ein Machtgefälle in der Therapie, wendet sich der Narzissmus gegen einen selbst, steigt der Erfolg zu Kopfe, droht der Absturz, die Lüge, die Entschleierung.

—> Warum Kinder keine Tyrannen sind – Dokumentation von Nicole Rosenbach für „Das Erste“ (hier in der Mediathek)


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8 Antworten auf „Winterhoff erlebt sein Waterloo“

  1. Absolut übel und erschütternd, wie dieser Typ Kinder noch und noch abgewertet, als Problemfälle, Narzissten und schwarze Schafe tituliert und mit Medikamenten schwer geschädigt und ihnen die Kindheit zerstört hat. Ich bin fassungslos, wie Kinderheime und Jugendämter bei diesen Verbrechen mitmachen konnten. Und nur nebenbei: der wirkliche Narzisst – selbstgefällig, Leute vereinnahmend, jeden Fehler verneinend, sich in der Begeisterung sonnend – ist der Herr Dr. Winterhoff!

  2. Ich habe die Doku selbst noch nicht gesehen. Im Zuge der Fortbildung als Pflege-Eltern bin ich u.a. auch bei seinem Werk gelandet. Konnte zwar dem ersten Werk über die Entwicklung und durch Beobachtung in meinem Umfeld zustimmen, habe mir dann aber lieber Lehrbücher zum Thema Bindungstheorie und Pflegekinder besorgt. Wenn man glaubt, eine Lösung für ein Problem gefunden zu haben, dann rutscht man schnell in die Verallgemeinerung. Es widerspricht dem elterlichen Auftrag, Kindern die Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders bei zu bringen, wenn man sie sediert. Es ist ein tiefer Fall.

  3. Als Großmutter, die zu ihrer Zeit der antautoritären Erziehung gegenüber nicht abgeneigt war, aber viel Wert darauf legte, entscheidende Werte des sozialen Zusammenlebens zu vermitteln, konnte ich der Ursprungsanalyse Winterhoffs zu Anfang auch einiges abgewinnen. Denn meine eigenen Beobachtungen im Umfeld zeigen mitunter eine totale Umkehrung des Eltern/Kind Verhältnisses. Da werden Eltern fast zu Untergebenen und erzeugen kindliche Verhaltensweisen, die narzisstisch anmuten.

    Was aber Winterhoff daraus machte und in der Doku gezeigt wurde, schüttelt mich vor Entsetzen.

    Ist das wieder ein Beispiel dafür, wie leicht sich eine Gesellschaft blenden lässt?

    1. Behufs Antiautoritäre Erziehung

      Einfach mal lesen:

      Alexander Sutherland Neill „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung: Das Beispiel Summerhill“

      Bitte vom Titel nicht abschrecken lassen, das was der Mensch da meint ist nicht mit „Kind darf alles machen“ sprich Laissez-faire zu verwechseln…

      bombjack

      1. Gute Empfehlung @bombjack!

        Meine Kinder sind geboren in den 1970ern, da hatten wir A.S.Neill intus. Auch damals haben wir schon auf Mißverständnissen beruhende Auswüchse z.B. in manchen „Kinderläden“ oder auch bei den jungen Grünen mit Skepsis und kritisch beobachtet.
        Ich zähle mich zu den 68ern, wir wollten es vor allem besser machen als die Elterngeneration: Autorität muss erworben und nicht einfach aus Alter oder Amt hergeleitet werden.

        1. Nö…kinderdok war nicht an Dich gerichtet….

          Blöderweise wird antiautoritäre Erziehung halt sehr oft mit Laissez-faire gleichgesetzt….und damit verdammt….

          bombjack…
          der seit 1994 in der Kinder/Jugendarbeit als Pfadfinder unterwegs ist…und trotz über 50 immer noch aktiv….

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