
Sind wir ehrlich: Wer schon einmal in einer Notfallaufnahme gearbeitet hat, und sich wundern musste, mit welchen Bagatellen dort Patient*innen aufschlagen, hat sich sicher schon einmal dabei ertappt, mit einem großen Seufzer zu sagen: “Wenn die alle eine Gebühr zahlen müssten, dann würde sich das hier ganz schnell regulieren.”
Geld als Door-Shutter, als Hürde, damit sich die Patient*innen, in unserem Fall die Eltern, dreimal überlegen, ob sie eine Notaufnahme am Wochenende oder abends aufsuchen müssen.
Notfallgebühr bei unangemeldeten Besuchen in der Notaufnahme
Nun hat der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. med. Andreas Gassen, genau das gefordert: Eine Gebühr beim Eintritt in die Notaufnahme. Wörtlich äußerte er sich gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland mit den Worten “Wer weiterhin direkt in die Notaufnahme geht, ohne vorher die Leitstelle anzurufen, muss gegebenenfalls eine Notfallgebühr entrichten, denn das kostet die Solidargemeinschaft unterm Strich mehr Geld und bindet unnötig medizinische Ressourcen”. Im weiteren: “„Unsozial ist in meinen Augen […], den Notdienst unangemessen in Anspruch zu nehmen und damit das Leben anderer Menschen zu gefährden. […] Wer noch selbst in eine Notaufnahme gehen kann, ist oft kein echter medizinischer Notfall.“
Gassen ist Orthopäde und Unfallchirurg, laut Wikipedia arbeitete er zwischen 1989 und 1996 in einem Akutkrankenhaus in Düsseldorf, bevor er sich in einer Gemeinschaftspraxis niederließ. Er sollte in seiner Krankenhauszeit sicher ausreichend Kontakt auch zu Notaufnahmen gehabt haben, wobei sicher der Überlauf, wie er heuer stattfindet, in den 90er Jahren noch nicht ein echtes Problem war.
Es gibt Unterschiede in der Notbetreuung
Zunächst sollten wir die Notaufnahmen und die KV-Dienste in den Kliniken voneinander trennen. Jedes Akutkrankenhaus muss Notfallkapazitäten vorhalten für lebensbedrohliche Situationen, akute schwere Verletzungen oder natürlich die durch den Rettungsdienst angelieferten Patient*innen. In den Notaufnahmen der Krankenhäuser arbeiten die angestellten Ärzt*innen des Krankenhauses. Je nach Größe des Krankenhaus werden diese “Notdiensttuende” komplett für die Notaufnahme abgestellt, oder aber sie müssen den Dienst in der NA neben ihrem regulären Stationsdienst ableisten (“Dienstpiepser”). In den großen Häusern der Akutversorgung schließlich gibt es eine eigene Abteilung für die Notaufnahme, oft als Unterabteilung der Chirurgie oder Anästhesiologie, idealerweise aber geleitet als interdisziplinäre NA durch einen Facharzt der Notfallmedizin. Letztere eigenständige Berufsbezeichnung wird aber durch viele Fachgesellschaften kritisch gesehen.
Daneben gibt es in vielen Regionen Notfallpraxen der Kassenärztlichen Vereinigungen, abgedeckt durch die niedergelassenen Haus- und Fachärzt*innen, die per Kassenarztrecht verpflichtet sind, an diesen Notdiensten Teil zu nehmen. Hier versorgen unter Umständen Augenärzt*innen genauso die Akutpatient*innen, wie Urolog*innen oder siebzigjährige Allgemeinmediziner*innen, die als Poolärzt*innen Dienste übernehmen. In manchen Regionen gibt es abgetrennte Notfallpraxen für pädiatrische Patient*innen, die natürlich durch Kinder- und Jugendärzt*innen versorgt werden.
Um Patient*innen-Ströme besser zu steuern, sind die KV-Praxen idealerweise in der Nähe oder auf dem Campus des regionalen Krankenhauses angesiedelt, es gibt manchmal sogar eine gemeinsame Tür, hinter der entschieden wird, ob der Notfall einem/r Krankenhausärzt*in vorgestellt wird oder dem KV-Dienst.
Für eine Erstauskunft oder bessere Filterung wurde die bundesweite Servicenummer 116 117 eingeführt, hier können Patient*innen ihre akuten medizinischen Probleme schildern und eine Auskunft bekommen, ob und wann ein/e Mediziner*in aufgesucht werden sollte. Sind wir ehrlich: Die Qualität hinter dieser Nummer ist bundesweit sehr heterogen. Patient*innen berichten sowohl von sehr guter Beratung, viele Eltern machen mit erkrankten Kindern bespielsweise aber die Erfahrung, dass sie sofort in die Kinderklinik oder die Kinderarztpraxis geschickt werden. An pädiatrische Patient*innen verbrennt sich eben niemand gerne die Finger.
Was kann eine Gebühr bewirken?
Vor Jahren (2004-2012) hatten wir eine Praxisgebühr von 10 Euro für erwachsene Patient*innen bei den Hausärzt*innen. Die Vorstellung war, dass dadurch seltener Bagatellerkrankungen behandelt würden und dass eine bessere Steuerung von den Hausarztpraxen zu den Fachärzt*innen erfolgte. 2013 wurde die Gebühr durch einen Beschluss aller Bundestagsfraktionen abgeschafft, die gesteckten Ziele wurden nicht erreicht. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung kam bereits 2005 – ein Jahr nach Einführung der Praxisgebühr – zu dem Ergebnis, dass Praxisbesuche vor allem bei einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen eingespart wurden.
Im Jahr 2000 wurde in einem israelischen Kindergarten eine Geldstrafe eingeführt, da die Eltern häufig zu spät kamen, um die Kinder abzuholen. Das Ergebnis: Noch mehr Eltern kamen zu spät. Sie verstanden die Gebühr nicht als Strafe, sondern als erkaufte Erlaubnis, nun erst Recht zu spät zu kommen (jüngst gelesen bei Twitter @wolfhautz). Auf eine Notaufnahmegebühr übertragen hieß dies: Ich zahl ja schon, dann möchte ich aber auch sofort drankommen. Und auch hier wieder: Wer es sich leisten kann, wird im Notfall behandelt, wem die diskutierten 25 Euro zuviel sind, bleibt zuhause und stirbt an der Appendizitis.
Wolf Hautz (immerhin Professor für Notfallmedizin) stellt auf Twitter außerdem die Qualität unseres Triagesystems an den Krankenhäusern hervor, welches allerdings lediglich die “Dringlichkeit” einer Behandlung beurteilen kann, nicht aber die “Notwendigkeit”. Er bezweifelt, dass Patient*innen dies in gleichem Maße zuhause oder nach einer telefonischen Beratung beurteilen können.
Was ist ein Notfall
Wir erleben das in unseren KV-Praxen jeden Abend und an jedem Dienst am Wochenende: Eltern erscheinen mit Bagatellerkrankungen, weil sie den Kopf verlieren und jedes Fieber, jeden Hautausschlag, jede noch so banale Verletzung als lebensbedrohlich verstehen. Sicher spielt es auch eine Rolle, das die Notfallpraxen stets verfügbar sind, sie werden als legitime “Vertreter” der eigenen Hausarztpraxis am Wochenende angesehen.
Der Begriff “Notfall” ist für alle ein subjektiver. Die Mutter mit dem ersten Neugeborenen hat ein anderes Bild davon als die mit zehn Kindern oder die, deren Kind bei einem Asthmaanfall zyanotisch wurde. Die behandelnden Ärzt*innen sehen vermeintliche Bagatellerkrankungen als “Notfälle” genervter, wenn es fünfzig in der Reihe sind statt einer an einem einsamen Mittwochabend.
Niemand geht gerne ins Krankenhaus, ob als Patient*in oder als besorgte Eltern. Niemand, der Angst um die eigene Gesundheit oder die der Kinder hat, ist “unsozial”, wie das Gassen behauptet. Für uns Mediziner*innen sollte in erster Linie die medizinische Hilfe als Maßstab unserer Behandlung stehen, nicht die Vorverurteilung bestimmter Patient*innengruppen.
Was können wir anders machen
- Bessere Gesundheitsbildung in der Bevölkerung, z. B. durch ein Schulfach “Gesundheit”, Stärkung der Primärprävention.
- Schaffung eines transparenteren Gesundheitssystems. Viele Patient*innen wissen schlicht nicht, durch welche Tür sie im Krankenhaus gehen sollen und wer wann für sie zuständig ist. Hier sind auch wir Hausärzt*innen gefragt, unsere Patient*innen besser zu “erziehen”.
- Mehr Transparenz bei den Gesundheitskosten: Jede/r Patient*in bekommt unaufgefordert eine Patient*innenquittung über die aufgelaufenen Kosten der Behandlung.
- Verbesserung der telefonischen Beratung unter 116 117, Ausbau der Telemedizin.
- Errichtung eines “Gatekeeper”-Systems an allen Krankenhaus-Campus, hier entscheidet wohlgeschultes Personal, ob Patient*in in die Krankenhausnotaufnahme muß, zum KV-Dienst geschickt wird, oder: Nach Hause geschickt wird. Wir müssen uns auch das erlauben dürfen! Nicht jede/r muss immer behandelt werden!
- Im Krankenhaus darf auch entschieden werden, ob jede Diagnostik und Behandlung (CTs, MRTs) immer sofort sein muss, oder ob nicht manches auch geplant werden kann.
- Einführung des Facharztes für Notfallmedizin, um interdisziplinäre Notaufnahmen zu koordinieren.
- Und natürlich: Mehr Personal und Geld für die Krankenhäuser und deren Ambulanzen.
(c) Bild bei kinderdok

Hat Dir das Posting gefallen? Gib doch ein Trinkgeld. Danke 😉
2,00 €
bawü 116117: einmal nachts um 22 Uhr getestet: geht keiner ran.
Ich bin dann doch mit dem weinenden Kind in die Notaufnahme gefahren. Bauchschmerzen nachdem es abends vom Fahrrad fiel inkl Lenker (oder was anders) in den Bauch, war mir zu heiß um bis morgens zu warten. Ich hätte auch unseren Kinderarzt im Dorf anrufen können (auf seiner privaten Telnr, die gibt er raus), aber der kann ja auch wenig machen.
Wir haben dann von 23 bis 3 Uhr in der Notaufnahme gewartet, weil insg. 3 besoffene Jugendliche mit dem RTW kamen und die einzige Kinderärztin sich um diese Patienten kümmern musste. Eine andere Mutter mit ca 6 jährigem Kind und 3cm Platzwunde wollte nicht so lange warten, die ist dann wütend heim gegangen.
Notfallpraxis für Kinder ist hier am Wochenende in Räumlichkeiten der Klinik (aber nur 8-20 Uhr oder so). Je nach Arzt aber auch nicht sonderlich toll. Wenn unser Kia Dienst hat, dann vergibt er auch gerne “Termine” für sa&so a la “ich hab eh Notdienst, wenn das Kind samstagmittag noch Fieber hat, dann fahrt nach xxxx”.
Gebühren find ich Quatsch. Bei vermutetem gebrochenem Arm wüsste ich aber nicht, wo ich sonst hin sollte außer in die Notaufnahme. Am Wochenende kann ichs noch über die Notfallpraxis versuchen (wobei die mich vermutlich auch ein Stockwerk weiter in die Notaufnahme schicken würden). Der normale Kinderarzt wird mir wenig bringen, der kann nicht röntgen (evtl telefonisch kurz eine Einschätzung geben, wo man hin soll).
Theoretisch ist alles klar soweit.
Was ist eine Wochenendpraxis? So etwas gibt es bei uns nicht.
Außerhalb der üblichen Sprechzeiten (irgendwie haben gefühlt alle Ärzte auch die gleichen) habe ich nur die Wahl zwischen dieser Servicenummer, der Notaufnahme im KH oder 112. Die Servicenummer haben wir einmal bei meiner Oma in Anspruch genommen, die diensthabende Ärztin kam immerhin nach mehreren Stunden und ließ meine Oma ohne klare Diagnose ins KH einweisen, stellte sich dann als Schlaganfall heraus und sie war seitdem ein Pflegefall…
Die Notaufnahme haben wir tatsächlich öfter mal aufgesucht,wenn ein Warten auf die Öffnungszeiten am nächsten Montag uns nicht ratsam schien, z.B. gebrochene Gliedmaßen bei den Kindern, oder ungewohnter Atemnot beim (mit Asthma betroffenen) Mann. Wäre es hier IMMER besser, den Krankenwagen über die 112 anzufordern oder zu warten? (Gebrochener Arm ist ja nicht lebensbedrohlich…)
JEDER Arzty ist verpflichtet, außerhalb der Sprechzeiten für Vertretung zu sorgen. Dies muss auf dem AB oder der Homepage bekannt gemacht werden. Man kann sich deswegen auch die KV wenden, da wird einem geholfen.
Ich lag letztens in einem Maximalversorger (Pädiatrie) als Begleiter eines echten Notfalls in der Rettungsstelle. Und zwar so, dass ich die Triage hören konnte. Innerhalb von 2h an einem frühen Wochenendmorgen kamen 20 Eltern mit Kindern, von denen alle (!) in die KV Praxis “wegtriagiert” wurden. Insgesamt lagen in der gesamten Liegezeit dort mit uns noch 3 weitere, “echte” Notfälle (2 mit RTW). Wenn ich mir vorstelle, dass das Krankenhaus hier um die Ecke (Grundversorgung) diese KV Praxis nicht hatte und man dort am WE Schlangw steht…frag ich mich, warum der Wochenenddienst nicht massiv ausgebaut wird. Also mehr Wochenendpraxen in allen Regionen! Vernünftig bezahlt, von mir aus mit Zuschlag, und ausreichend Personal. Zusätzlich zu flächendeckenden KV Praxen mit ggf Fachdisziplinen an jedem Krankenhaus.
Vielen Dank für klare und ruhige Einordnung.