Who cares? – Eine Buchrezension

Da ärgert sich jemand so richtig, das kommt in letzter Zeit häufiger vor, medienwirksam, in Talkshows, auf Demos, im Netz. Hier ist es ausnahmsweise ein Kinder- und Jugendarzt, ein „Kolläge“, der den Mund aufmacht. Unsere Berufsgruppe ist sonst eher eine stille, eine auch, die stillhält und nicht Aufmerksamkeit erregt durch Streiks oder lautes Rufen.

Steffen Lüder teilt aus

Steffen Lüder ist niedergelassener Kinder- und Jugendarzt aus Berlin-Hohenschönhausen, einen Dr. med. hat er auch, soviel Zeit muss sein. Er ist in Fachkreisen und in der Berliner Gegend bekannt geworden, weil er am 2. Dezember 2022, vier Wochen vor Jahresende, beschloss, seine Praxis geschlossen zu halten für den Rest des Jahres. Sein Jahres“budget“ für die Betreuung der Kinder war aufgebraucht. Hätte er weitergearbeitet, bekäme er die restliche Arbeit gar nicht oder nur deutlich abgestaffelt ausbezahlt. Ihr Bäcker macht seinen Laden ab Donnerstag, 15 Uhr, immer zu, weil er bereits jetzt alle Brötchen gebacken und verkauft hat, wie in der gesamten Woche davor? Und er es nicht einsieht, die Brötchen für Freitag und Samstag kostenlos abzugeben oder nur für die Hälfte des Preises? Der Vergleich hinkt? Ja. Aber genau so ist es.

Steffen Lüder analysiert die Kinder- und Jugendmedizin in unserem Lande. Im ersten Teil des Buches geht es um die Kinderarztpraxen, das Aussterben der Praxen auf dem Land, dem fehlenden Nachwuchs und die überbordende Bürokratie, dann die Notaufnahmen, die gnadenlos überlaufen sind, weil sie den Mangel „draußen“ auffangen müssen, die Kinderkrankenhäuser, die kaputt gespart werden, denen die FachärztInnen und Pflegenden abhanden kommen, schließlich die Medikamentenknappheit bei Fieber- und Antibiotikasäften und die Krankenkassen, die all das nicht bezahlen wollen oder können.

Das Gesundheitssystem selbst krankt, nicht nur die Kindermedizin

Der zweite Teil des Buches weitet den Blick auf die Ursachen, die das gesamte Gesundheitssystem kranken lassen: Studium und Ausbildung, welches lange dauert und mit zu wenig AbsolventInnen endet (weil es zu wenig zugelassene Medizinstudierende gibt), die Komplexität der Finanzierung unseres Systems und die stolpernde, nervige und unzureichende, weil unausgegorene Digitalisierung des medizinischen Betriebes. Am Ende bekommen auch die Eltern ihr Fett weg: In einem sehr persönlichen und launigen Appell bittet Lüder die Eltern, nicht mit jeder Bagatelle die Notaufnahmen und Kinder- und Jugendarztpraxen zu verstopfen.

Ich möchte bei jedem Kapitel einen großen Seufzer ausstoßen. Wie Recht der Mann doch hat. Klar ist auch: Endlich sagt es mal jemand so deutlich. Unser Berufsverband sollte das schmale Büchlein von knapp 140 Seiten aufkaufen und an alle GesundheitspolitikerInnen dieses Landes versenden. Denn sie sind die eigentlichen Adressaten, auch wenn das Buch sicher eher für Eltern geschrieben ist. Deshalb greift auch der launige Elternappell vermutlich an den meisten Eltern vorbei, die dieses Buch sowieso nicht lesen werden. Wir KollegInnen werden Steffen Lüder applaudieren, die PolitikerInnen aufeinander und vor allem auf Karl Lauterbach zeigen, Eltern verstehen vielleicht die Sorgen ihrer Kinder- und JugendärztInnen besser und auch, dass diese ab und zu mal schlechte Laune haben. Dabei ist der Lüder eigentlich ein ganz lustiger. Und Marathonläufer.

Dr. med. Steffen Lüder: Who cares? Wie unser Gesundheitssystem das Leben unserer Kinder gefährdet. riva 2024.

(das Buch habe ich mir selbst gekauft)

(c) Bild bei kinderdok

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